„Die Dauer und das Ausmaß einer Rezession in Europa hängen weitgehend von zwei unkontrollierbaren Faktoren ab: Russlands Bereitschaft, Europa mit Erdgas zu versorgen, und den Temperaturen in diesem Winter“, erläutert Ewert. Auch wenn sich die Lage in Europa – und darüber hinaus – in den nächsten Monaten eher verschlechtern als verbessern könnte, sei es für Investoren ratsam, auf frühe Signale einer Erholung zu achten. Interessant sei hier eine Untersuchung des Euro Area Business Cycle Network. Demnach gab es in den letzten 50 Jahren in Europa fünf Rezessionen. In vier dieser Fälle erreichte der MSCI Europe Index seinen Tiefpunkt entweder in dem Quartal, in dem die Rezession begann, oder im darauffolgenden Quartal. Dazu gehören die Zeiten der Stagflation in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren, der Abschwung in den frühen 1990er-Jahren und die Pandemie im Jahr 2020. Eine Ausnahme bildete die globale Finanzkrise 2008, als europäische Aktien fünf Quartale nach Beginn des Abschwungs ihren Tiefpunkt erreichten.
Regierungen mildern Rohstoffkrise
Lazard AM erkennt durchaus positive Entwicklungen, denn Unternehmen in Europa seien dabei, sich auf die Energiekrise einzustellen und ihre Energieeffizienz zu verbessern. Auch die Regierungen seien sehr aktiv. „Deutschland hat zum Beispiel bei der Aufstockung seiner Gasspeicher vor dem Winter erhebliche Fortschritte gemacht, um sich gegen anhaltende Versorgungsunterbrechungen zu schützen“, lobt Ewert. Verschiedene Länder hätten zudem Regelungen getroffen, um Verbraucher und auch die Wirtschaft in Teilen vor steigenden Preisen zu schützen – insbesondere in Nordeuropa. „All das wird nicht verhindern, dass eine Rezession kommt, aber es sollte deren Auswirkungen abmildern“, so Beatrix Ewert.
Gemäßigter Zinskurs denkbar
Auch beim Thema Inflation rät Ewert zur genauen Beobachtung: „Die Zentralbanken, darunter auch die Europäische Zentralbank, haben auf die Inflation aggressiver reagiert, als die Märkte es erwartet haben. Jetzt sei denkbar, dass die Notenbanker einen gemäßigteren Kurs einschlagen – besonders dann, wenn sich der wirtschaftliche Ausblick verschlechtert.“ Dies gelte insbesondere, wenn sich die allgemeine Teuerung abschwäche. „Die Inflation ist sehr schnell sehr stark angestiegen und könnte nahe eines Übertreibungslevels angekommen sein. Der Markt könnte daher erneut überrascht werden, wenn sie stärker als erwartet zurückgeht“, erläutert die Expertin. Bereits jetzt sei erkennbar, dass sich die Engpässe in den Lieferketten verbesserten: So seien Frachtkosten rückläufig und die Warenmengen in den Frachtterminals wieder handhabbar.
Stockpicking bietet sich an
In diesem Gesamtumfeld bietet sich laut Ewert Stockpicking besonders an. Ein Schwerpunkt sollte dabei auf dem Finanzsektor liegen. „Höhere Zinssätze tragen zur Verbesserung der Nettozinsmargen der Banken bei. Allerdings haben die Anleger das Ausmaß der Verbesserung unterschätzt, und die Aktienkurse passen sich an, um dies widerzuspiegeln“, erklärt die Expertin. Das Volumen der Aktienrückkäufe europäischer Banken sei im Vergleich zum übrigen Markt bemerkenswert.
Interessant seien auch Energieunternehmen. Diese verfügten über solide Bilanzen und entschieden sich dafür, Kapital an die Aktionäre zurückzugeben, was durch Währungseffekte und steigende Rohstoffpreise begünstigt werde. Auf der anderen Seite seien Unternehmen und Sektoren, die stärker auf den Endverbraucher ausgerichtet sind, trotz beispielloser staatlicher Interventionen mit erhöhter Unsicherheit konfrontiert. Diese Bereiche des Marktes hätten das Potenzial, sich wieder zu erholen, wenn sich die Stimmung zu verbessern beginnt.
Preismacht macht attraktiv
Weiterhin seien Aktien interessant, die von makroökonomischen Entwicklungen unabhängig sind wie z. B. Unternehmen aus dem Gesundheitswesen oder der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie, die über eine starke Preissetzungsmacht oder sinkende Inputpreise verfügen. „Aktien mit Preissetzungsmacht sind im Großen und Ganzen ein Inflationsschutz, und die globale Ausrichtung Europas trägt zur Risikodiversifizierung bei und bietet differenzierte Chancenquellen“, führt Beatrix Ewert aus.
Fazit: Handeln bevor der Aufschwung bestätigt wird
Ewerts Fazit: „Auch wenn die Herausforderungen in nächster Zeit weiter bestehen bleiben, könnte das hohe Maß an Unsicherheit, mit dem die Anleger konfrontiert sind, schnell eingepreist werden, während die Aussichten in Bezug auf den Winter und die Energiepreise klarer werden könnten.“ Ein erneuter Rücksetzer könnte aus Sicht der Expertin Kaufgelegenheiten bieten: „Europa ist im Vergleich zu den globalen Wettbewerbern attraktiv, mit Bewertungen, die im historischen Kontext ansprechend sind. Ist der Boden erst einmal erreicht, sollten europäische Aktienanleger in der Regel schnell reagieren – und zwar noch vor einem bestätigten Aufschwung der Wirtschaft und der Unternehmensgewinne.“
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