Gleichzeitig verzeichnen viele Unternehmen weiterhin hohe Gewinne und schütten Milliarden Euro an Dividenden aus, wie die Studienautoren Dr. Malte Lübker und Thilo Janssen etwa mit Verweis auf die deutsche Automobilindustrie analysieren. Das laufende Jahr könnte damit von einer Umverteilung zulasten der Beschäftigten geprägt sein – eine Entwicklung, die sich nach Einschätzung der Europäischen Kommission in einer sinkenden Lohnquote zeigen wird. Spiegelbildlich führt dies zu einem höheren Anteil der Unternehmens- und Vermögenseinkommen am Volks-einkommen. Um den entgegenzusteuern, seien hohe Lohnforderungen in Branchen mit guter Gewinnentwicklung durchaus berechtigt und für die Unternehmen auch zu verkraften, so die Analyse der Wissenschaftler. Dies gilt auch, wenn die gestiegenen Weltmarktpreise für Vorprodukte und importierte Energieträger berücksichtigt werden.
Dazu haben die Wissenschaftler den Verteilungsspielraum berechnet, bei dem der Anteil von Löhnen und Gewinnen an der inländischen Wertschöpfung konstant bleibt. Um sicherzustellen, dass das Ergebnis nicht durch die gestiegenen Importpreise – die derzeit wesentlich zur Inflation beitragen – verfälscht wird, wurde der Verteilungsspielraum auch als Summe aus BIP-Deflator und Produktivitätsentwicklung gebildet. Beides bezieht sich auf die inländische Wertschöpfung und ist für die Zahlungsfähigkeit der Unternehmen entscheidend. Sowohl für Deutschland als auch die Europäische Union ergibt sich hieraus ein gesamtwirtschaftliches Potenzial für Lohnsteigerungen von etwa sechs Prozent (siehe auch Tabelle 4 in der Studie; Link unten).
Die Prognose der Europäischen Kommission „legt damit nahe, dass gesamtwirtschaftlich gesehen relativ hohe nominale Lohnsteigerungen möglich sind, ohne dass diese zwangsläufig zu einem Rückgang der Unternehmensgewinne führen“, schreiben Lübker und Janssen. Allerdings, auch darauf weisen die Forscher hin, ist jeder Ausblick im Moment „mit einer ungewöhnlich hohen Unsicherheit behaftet“. Diese Unsicherheiten seien sicherlich Anlass für Vorsicht, sollten aber nicht zu holzschnittartig vereinfachten Schlussfolgerungen verführen, warnen die Wissenschaftler. „Einseitige Forderungen an die Gewerkschaften, im übergeordneten Interesse auf Lohnsteigerungen zu verzichten, greifen jedoch zu kurz und verkennen die Ursachen der momentanen Preisdynamik. Angebrachter wäre ein Appell an die Unternehmen, ihrerseits ‚Gewinnzurückhaltung‘ zu üben“, analysieren Lübker und Janssen daher in ihrem Fazit. „Auch dem Staat kommt derzeit eine besondere Verantwortung dafür zu, die sozial- und verteilungspolitischen Auswirkungen der Inflation abzufedern und so indirekt den Erwartungsdruck auf die Tarifparteien zu mildern.“
Die WSI-Experten werten in ihrem Tarifbericht umfangreiches Datenmaterial für alle 27 EU-Länder aus, unter anderem die Prognosen der EU-Kommission. Trotz spürbarer nationaler Unterschiede beobachten sie ein EU-weites Muster im laufenden Jahr: „Die Tarifparteien agieren in einer ungewöhnlich komplexen Situation – zumal der wirtschaftliche Ausblick ungewiss und die weitere Entwicklung des Krieges in der Ukraine nur schwer absehbar ist.“ Aktuell ist die wirtschaftliche Entwicklung in der EU allerdings recht stabil. Nach vorläufigen Schätzungen von Eurostat lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im 2. Quartal 2022 um 4,0 Prozent über dem des Vorjahreszeitraums. Für das Gesamtjahr prognostiziert die Kommission in ihrem jüngsten Ausblick vom 14. Juli 2022 im EU-Mittel weiterhin ein Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent. Auch das Bruttoinlandsprodukt im Euroraum (+2,6 Prozent) und in Deutschland (+1,4 Prozent) wird nach der aktuellen Prognose in diesem Jahr zulegen.
* Lübker, Malte; Janssen, Thilo: Europäischer Tarifbericht des WSI 2021/2022: Tarifpolitik im Zeichen von Krise, Krieg und Inflation. WSI Report Nr. 77, Düsseldorf, August 2022.
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