Hilfsmittelversorgung: Formularberge in Papierform rauben Patientenzeiten

Wer heute in ein Sanitätshaus geht, um ein Rezept für eine Hilfsmittelversorgung einzulösen, muss damit rechnen, zunächst einmal Berge von Papierformularen auszufüllen. Hierzu gehören die Datenschutzerklärungen und die Mehrkostenerklärung. Denn jede medizin-technische Versorgung muss zum Schutze der Patienten gemäß europäischer Richtlinie dokumentiert und nachverfolgt werden. Betreiber von Sanitätshäusern sind wiederum gezwungen, kistenweise Anträge und Abrechnungen für Hilfsmittelversorgungen an die verschiedenen Kostenträger per Post zu senden. Die Zeit für die Bewältigung der Papierformulare geht vom Patienten ab.

Linda Heitmann (MdB), die für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als Abgeordnete für Hamburg-Altona im Bundestag sitzt, überzeugte sich am 28. Juni bei einem Besuch im Stolle Sanitätshaus in Hamburg Blankenese persönlich von den umfangreichen Kompetenzen und komplexen Abrechnungsprozessen eines Sanitätshauses. Welche Chancen Digitalisierung bietet, wenn es darum geht, die bisher umfangreichen Papierberge bei der Beantragung von individuellen Hilfsmitteln zu reduzieren, wurde Frau Heitmann anhand eines Beispiels an einer Patientin mit Stützstrumpf-Bedarf vor Ort demonstriert. Linda Heitmann ist seit 2021 Mitglied des Bundestages und dort unter anderem Mitglied des Ausschusses für Gesundheit.

Transparente Prozesse

Mit jeder der derzeit 97 Krankenkassen in Deutschland müssten nach geltendem Recht Leistungserbringer einzeln verhandeln, und zwar zu jeder Produktgruppe. „Bereits der Verhandlungsaufwand ist enorm. Dass die Sanitätshäuser zusätzlich je nach Kostenträger unterschiedliche Formulare im Papierformat ausfüllen müssten, ist nicht nur für Sanitätshäuser unzumutbar. Auch für Patienten wird damit die Leistung vollkommen intransparent“, meinte Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT), der Linda Heitmann bei ihrem Besuch begleitete. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens sei allerdings nicht ohne die Einbeziehung der Akteure denkbar. Ein negatives Beispiel: die elektronische Patientenakte (ePa). Trotz des regelmäßigen interdisziplinären Austausches von Handwerkern und Medizinern bei der komplexen Hilfsmittelversorgung von Patienten gewährt der Gesetzgeber Leistungserbringen bisher nur bedingten Zugang zu allen relevanten Versicherteninformationen in d er elektronischen Versichertenakte. „Wir fordern daher die gesetzliche Verankerung des Lese- und Schreibzugriffs auf alle für die Versorgung mit Hilfsmitteln relevanten Versicherteninformationen in der elektronischen Patientenakte. Zudem ist wie bei dem eRezept für Arzneimittel sicherzustellen, dass die freie Wahl des Versicherten sichergestellt bleibt – auch für Hilfsmittelverordnungen sollte die gematik als neutrale Stelle verantwortlich sein“, sagte Alf Reuter.

Mit flexibleren Verträgen versteckte Leistungskürzungen verhindern

Detlef Möller, Geschäftsführer des Stolle Sanitätshauses, betonte gegenüber der Bundestagsabgeordneten, dass ihn die Inflexibilität der Kostenträger derzeit besonders umtreibe. „Die meisten Verträge haben mehrere Jahre Laufzeit. Änderten sich aber die gesellschaftlichen Bedingungen – Stichwort Mindestlohnerhöhung, Corona-Pandemie mit Mehrkosten im Bereich der Persönlichen Schutzausrüstung (PSA) oder den aktuell durch die Decke gehenden Energie- und Frachtkosten – gibt es keinen Spielraum für Verhandlungen. Es kann nicht sein, dass wir allein auf den Mehrkosten sitzen bleiben. Das gefährdet die Betriebe und damit langfristig die Hilfsmittelversorgung in Deutschland“, erklärte der Orthopädietechnik-Meister. Deshalb fordert der Verein „Wir versorgen Deutschland“ eine verhandlungsbasierte Regelung von Mehrkosten auf Ebene der Spitzenverbände der Leistungserbringer auf der einen und GKV-Spitzenverband bzw. G-BA auf der anderen Seite, deren Ergebnis dann für alle Krankenkassen verbindlich ist.

Hintergrund

Den Abbau der Bürokratie im Sinne von Patienten und zur Qualitätssicherung der Hilfsmittelversorgung fordert der Verein „Wir versorgen Deutschland“ seit Jahren.

Knapp 25 Prozent der gesetzlich Versicherten in Deutschland benötigen die Versorgung mit Hilfsmitteln. Für Teilhabe und Lebensqualität dieser Patienten und Patientinnen sind diese Versorgungen elementar: Sie gewährleisten den Erfolg ihrer Krankenbehandlung, beugen drohenden Behinderungen vor oder gleichen bereits bestehende Handicaps aus. Mehr als 120.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und mehr als 8.000 Leistungserbringer in den Bereichen Orthopädietechnik, Orthopädieschuhtechnik, Reha-Technik und Homecare verantworten die wohnortnahe und qualitätsgesicherte Versorgung. Doch die Hilfsmittelversorgung als ein zentrales Element der Gesundheitsversorgung in Deutschland steht vor großen Herausforderungen, die unter anderem durch die Stichpunkte Digitalisierung, überbordende Bürokratie und die Sicherung der Versorgungsqualität unter steigendem Kostendruck umrissen werden können.

Foto: Im Gespräch von li. n. re: MdB Linda Heitmann mit Generalsekretär Patrick Grunau und Vorstandsmitglied Alf Reuter vom Bündnis "Wir versorgen Deutschland" in einem Hamburger Sanitätshaus am 28. Juni 2022.

Über Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik

Der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) vertritt als Spitzenverband des orthopädietechnischen Handwerks etwa 2.500 Sanitätshäuser und orthopädietechnische Werkstätten mit mehr als 40.000 Beschäftigten. Jährlich versorgen die angeschlossenen Häuser mehr als 25 Millionen Patienten mit Hilfsmitteln. Der BIV-OT steht in der Verantwortung des deutschen Gesundheitswesens und engagiert sich für die Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der Versorgungsformen.

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