Wenn es eine Persönlichkeit in der internationalen Kulturszene gibt, auf die die Bezeichnung Universalkünstler zutrifft, dann ist das sicher William Kentridge. Der 1955 in Johannesburg geborene Kreativkopf studierte Politik, Afrikanistik und Bildende Kunst in seiner Heimatstadt, besuchte die Theaterschule Jacques Lecoq in Paris und arbeitete anschließend als Schauspieler, Designer und Theater-Regisseur. Kentridges Werke sind seit den 1990er-Jahren in bedeutenden Museen und Galerien auf der ganzen Welt zu sehen, seine Operninszenierungen werden in den großen Konzerthäusern aufgeführt.
Kentridges Eltern waren sowohl Anti-Apartheid-Anwälte als auch Bürgerrechtler, ein politischer Hintergrund und Familienstammbaum, der für Kentridges zukünftige Karriere als Künstler wichtig wurde. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass auch er mit diesem Thema konfrontiert wurde. Später verarbeitete er diese Erfahrungen in seinem künstlerischen Schaffen. Kentridges Ästhetik im Film greift auf die Geschichte des Mediums zurück – von Stop-Motion-Animation bis hin zu frühen Spezialeffekten. Dabei bildete das Zeichnen, insbesondere die Dynamik von Ausradieren und Neuzeichnen, einen integralen Bestandteil seiner zahlreichen Arbeiten in den Bereichen Animation und Film, bei denen die Bedeutungsebenen erst im Zuge ihres Entstehungsprozesses entwickelt werden.
William Kentridge hat bereits eine ganze Reihe an Operninszenierungen realisiert, darunter auch Alban Bergs „Wozzeck“ und Dmitri Schostakowitschs Erstling „Die Nase“. Nun ist er im Auftrag des Luzerner Sinfonieorchesters zu Schostakowitsch zurückgekehrt und hat einen Animationsfilm zu dessen zehnter Sinfonie produziert.
Der Film spielt in einem scheinbar verlassenen sowjetischen Museum, das in Wirklichkeit aus Pappe besteht und sich auf einem Tisch im Künstleratelier befindet. Mit einer Miniaturkamera macht man eine Tour durch die verschiedenen Säle des Museums, zu denen auch ein Gemeindetheatersaal, ein öffentliches Schwimmbad und ein Steinbruch gehören. Die zentralen Figuren des Films sind Majakowski, seine Geliebte Lily Brik, Trotzki, Schostakowitsch als Student, seine Schülerin Elmira Nasirowa, Stalin und Lenin. Diese Figuren treten als Puppen auf, werden aber auch von Schauspielern in Puppen gespielt. Die Form ist die einer Collage, und die übergeordnete These ist, dass man die Geschichte als eine Form der Collage verstehen muss. Ein wenig erinnern Kentridges Collagen an den Dadaisten Kurt Schwitters, den er sehr schätzt.
Die zehnte Sinfonie spielt im Schaffen von Schostakowitsch eine zentrale Rolle, denn sie entstand im Jahr 1953, unmittelbar nach dem Tod des Diktators Josef Stalin, und gilt als eines seiner ausdrucksstärksten Kompositionen. Acht Jahre waren vergangen, seitdem er seine neunte Sinfonie zu Papier gebracht hatte, somit war die Rückkehr zur Gattung Sinfonie eine besondere Entscheidung. In dem viersätzigen Werk dreht sich alles um den gerade erst verstorbenen Diktator, wie in den umstrittenen Memoiren von Schostakowitsch nachzulesen ist, die der Musikwissenschaftler Solomon Wolkow aufzeichnete: „Ich habe Stalin in meiner nächsten Sinfonie, der Zehnten, dargestellt. Ich habe sie direkt nach Stalins Tod geschrieben, und noch hat niemand erraten, worum es in der Sinfonie geht. Sie handelt von Stalin und den Stalin-Jahren. Der zweite Satz, das Scherzo, ist, grob gesagt, ein musikalisches Porträt von Stalin.“ Um zerstörerische Gewalt und menschliche Entwürdigung dreht sich auch der dritte Satz, in dem Schostakowitsch seine Initialen D-Es-C-H verewigte. Sie symbolisieren sein persönliches Leiden an dieser Diktatur.
Bei aller Skepsis gegenüber Wolkows Buch scheint der Stalin-Bezug bei der Sinfonie nicht aus der Luft gegriffen, denn auch der Dirigent Kurt Sanderling, Vater des Chefdirigenten des Luzerner Sinfonieorchesters Michael Sanderling, sprach von einem „Stalin-Thema“ im grellen und fratzenhaften zweiten Satz der Zehnten. Er saß an der Quelle, denn ihn verband eine enge Freundschaft mit Schostakowitsch. Michael Sanderling (*1967) hat ihn nur als Kind erlebt, denn Schostakowitsch starb bereits 1975. Er und seine Brüder wurden jedoch davon geprägt, dass die Eltern – der Vater als Dirigent, die Mutter als Kontrabassistin – dessen Sinfonien mit dem Berliner Sinfonie-Orchester aufgenommen haben. „Da ist dann diese Nähe zur Musik von Schostakowitsch entstanden“, erinnert sich die Mutter Barbara Sanderling, „besonders bei Michael, der alle 15 Sinfonien mit den Dresdner Philharmonikern eingespielt hat.“
Numa Bischof Ullmann, Intendant des Luzerner Sinfonieorchesters und Initiator des Projekts, hatte die ersten Gespräche mit William Kentridge bereits 2019 geführt. „Durch die tragischen Ereignisse in der Ukraine wurde das Projekt von der Geschichte de facto eingeholt und hat dadurch eine zusätzliche, äußerst berührende Dringlichkeit erhalten.“
Die täglich erlebte imperialistische Propaganda rückt das Thema, den Stalin-Bezug der zehnten Sinfonie Schostakowitschs, geradezu schmerzlich ins Zentrum. Stalin wird vom Kreml als Kriegsheld und Bezwinger des Nationalsozialismus gefeiert, sowie als Errichter eines russischen Großreichs. Das Bild von Stalin als Massenmörder und Gewaltherrscher hingegen versucht die russische Regierung zu verdrängen.
Michael Sanderling wird Schostakowitschs Zehnte mit dem Luzerner Sinfonie-Orchester und dem Film „Oh, to Believe in Another World“ am 15. Juni im KKL zu Luzern uraufführen, ein weiteres Konzert ist für den 16. Juni geplant. Die Termine sind nicht zufällig gewählt, denn das Projekt fügt sich zeitlich und vom künstlerischen Ansatz gut in das Umfeld der Kunstmesse ART Basel ein, die vom 16. bis 19. Juni veranstaltet wird, wobei einzelne Pre-Events bereits ab dem 12. Juni stattfinden.
Weitere Aufführungen von „Oh, to Believe in Another World“ gibt es am 29. und 30. Juni an historischer Stätte in Italien: im Teatro Grande, das im Herzen der Ruinen von Pompeji liegt. Das Schostakowitsch-Projekt ist dort in das Pompeji Theatrum Mundi Festival eingebettet. Es wird vom Theater in Neapel veranstaltet und steht dieses Jahr anlässlich des Ukraine-Kriegs unter dem Motto „Absurd und vergeblich ist das Beweinen der Toten“, das einen Vers des griechischen Dichters Stesichoros zitiert.
Termine „Oh to Believe in Another World”
15. und 16. Juni 2022 | 19:30 Uhr | Luzern | KKL Konzertsaal (UA)
Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975) Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93
Luzerner Sinfonieorchester
Žana Marović und Janus Fouché, Video Editing
Greta Goiris, Kostümdesign und Puppen
Sabine Theunissen, Bühnenbild
Duško Marović, Kamera
Einführung um 18:30h mit William Kentridge
29. und 30. Juni 2022 | 21:00 Uhr | Pompeji |Teatro Grande |Theatrum Mundi Festival
Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975) Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93
Luzerner Sinfonieorchester
Žana Marović und Janus Fouché, Video Editing
Greta Goiris, Kostümdesign und Puppen
Sabine Theunissen, Bühnenbild
Duško Marović, Kamera
Das Luzerner Sinfonieorchester ist das Residenzorchester im renommierten KKL Luzern. Als ältestes Sinfonieorchester der Schweiz hat es internationale Anerkennung erlangt und wird als eines der führenden Schweizer Sinfonieorchester wahrgenommen. Stark verankert in der weltweit bekannten Musikstadt Luzern, bietet es mehrere eigene Konzerzyklen an und organisiert das Festival "Le Piano Symphonique" in Luzern. Im Luzerner Theater wirkt es zudem als Opernorchester. Der Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters ist seit der Saison 2021/2022 Michael Sanderling.
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