„Hier werden Aufgaben auf die Patientinnen und Patienten verlagert, die eigentlich in der Hand von Expert:innen liegen sollten. Kommt es allerdings zu einem Prozess, weil die gefertigten Einlagen fehlerhaft sind, könnten die verklagten Leistungserbringer einwenden: Wir sind nicht zuständig, da die Vermessung laut Vertrag nicht in unserer Hand liegt. Letztlich erschwert eine solche Vertragsgestaltung die Durchsetzung von Haftungs- und Gewährleistungsansprüchen“, unterstreicht Nico Stephan, Rechtsanwalt bei der Medizinrechts-Kanzlei STEPHAN & HEIN Rechtsanwälte. Im besten Fall müsse eine neue Einlage gefertigt werden, welche von den Versicherten eventuell selbst zu zahlen sei. Im schlimmsten Fall führe die fehlerhafte Versorgung zu gravierenden Folgeschäden wie einer Verschlechterung der Erkrankung, wobei es dann um die Klärung von Haftungsfragen gehe. „Weil die Risiken im Versorgungsvertrag bei dem Modell von craftsoles/Meevo und BARMER aber in Richtung der Versicherten verschoben werden, ergibt sich für die Versicherten eine Schwächung ihrer Rechtsposition. Zum Beispiel stellt sich die Frage: Liegt der Fehler in der Messung oder in der Fertigung?“
Stephan geht allerdings davon aus, dass die von der BARMER eingeführte Online-Einlagenversorgung nicht zulässig sei und „eineindeutig“ gegen das deutsche Sozialrecht (§ 127 Abs. 1 S. 4/S. 5 Sozialgesetzbuch SGB V) verstoße und die Qualitätsanforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses sowie den Anspruch an eine wohnortnahe Versorgung unterlaufe. Zudem würden ebenfalls die Empfehlungen des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) ignoriert (Verstoß gegen § 126 Abs. 1a; § 126 Abs. 1 S. 3 SGB V).
Schon in einer Stellungnahme der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages von 2019 seien die Gesundheitshandwerke als gefahrgeneigte Handwerke gekennzeichnet worden, wie Stephan erklärt. Dort heißt es: „Im Bereich der Gesundheitshandwerke besteht vor allem die Gefahr von Gesundheitsschäden durch fehlerhafte Behandlungen, falsche Messungen oder Fehlanpassungen …“ (Dokumentation: Einteilung der Gewerbe in der Handwerksordnung und das Kriterium der Gefahrgeneigtheit, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 2019, S. 8). „Da liegt nach Ansicht des Gesetzgebers also ein Risiko. Allein schon durch die Zuordnung zu den gefahrgeneigten Handwerken sind Vermessung und Anpassung Leistungen, deren Qualität die qualifizierten Fachleute in den Betrieben der Leistungserbringer sicherstellen müssen und die sie selbst vorzunehmen haben. Denn aufgrund der hohen Gefahrneigung unterliegen diese Leistungen einer strengen Meisterpräsenzpflicht und Überwachung“, so Stephan.
Auch der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) kritisiert die Selbstvermessung durch die Patientinnen und Patienten: „Die korrekte Selbstvermessung, die craftsoles und BARMER von ihren Anwenderinnen und Anwendern verlangt, ist durch einen Laien nicht zu leisten“, unterstreicht BIV-OT-Präsident Alf Reuter. „Wir sehen hier eine grobe Verletzung notwendiger Qualitätsstandards in der Versorgung. Das Motto des craftsoles-/BARMER-Angebotes ‚Passt perfekt, passt zu Dir’ kann nur ironisch gemeint sein. Sollte eine dieser Einlagen bei den Betroffenen zu gesundheitlichen Folgeschäden führen – wer übernimmt dann die Haftung?“ Um hier Klarheit zu schaffen, hat der Bundesinnung BIV-OT das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) um Überprüfung des neuen Versorgungskonzepts des Anbieters craftsoles in Kooperation mit der BARMER Ersatzkasse gebeten.
Gemäß dem dritten Mehrkostenbericht* des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) steht die Produktgruppe Einlagen (PG 08) im Hinblick auf die Zahl der Versorgungsfälle weiterhin an erster Stelle. Demnach wurden im betrachteten Untersuchungszeitrum zwischen 1. Januar bis 31. Dezember 2020 ca. 4,4 Millionen Versicherte mit Einlagen versorgt. Nach Angaben des GKV-Spitzenverbands betrugen die Leistungsausgaben für die Produktgruppe etwa 482 Millionen Euro.
Die Stellungnahme medizinischer Fachgesellschaften zum Vorgehen der BARMER, darunter der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie e.V. (DGOOC), der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e. V. (DGOU) und der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e.V. (DGIHV), liegt dem BIV-OT vor.
*„Dritter Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die Entwicklung der Mehrkostenvereinbarungen für Versorgungen mit Hilfsmittelleistungen gemäß § 302 Absatz 5 SGB V“
Der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) vertritt als Spitzenverband des orthopädietechnischen Handwerks etwa 2.500 Sanitätshäuser und orthopädietechnische Werkstätten mit mehr als 40.000 Beschäftigten. Jährlich versorgen die angeschlossenen Häuser mehr als 20 Millionen Patienten mit Hilfsmitteln. Der BIV-OT steht in der Verantwortung des deutschen Gesundheitswesens und engagiert sich für die Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der Versorgungsformen.
Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik
Reinoldistr. 7-9
44135 Dortmund
Telefon: +49 (231) 557050-0
Telefax: +49 (231) 557050-40
http://www.biv-ot.org
Leitung Verbandskommunikation
Telefon: +49 (231) 557050-27
E-Mail: abel@biv-ot.org