Außerdem sind in dieser Woche jeweils ein Angebot von dem Ex-Kriminalisten und Krimiautor Ulrich Hinse und von dem Fantasy-Autor Johann Nerholz für eine Woche zum Superpreis von nur jeweils 99 Cents zu haben. Mehr dazu am Ende dieser Ausgabe.
Erstmals 1970 erschien im Aufbau-Verlag Berlin der Roman „Zum Beispiel Josef“ von Herbert Otto: Wer ist ein Springer? Zum Beispiel Josef, Josef Neumann, Jahrgang 1940, ehemaliger Fremdenlegionär. Er leert die Jackentaschen, zählt die Schritte ab für den Anlauf und fliegt durch die Scheibe, die mit einem vollen und gediegenen Ton zerspringt. Ein schwieriger Fall, der Mann mit dem Tick, dem solche Sprünge in Algerien das Leben retteten, der sie im Bordell in Beirut und in den Gassen der Altstadt von Dakar als Attraktion zum besten gab und nun in dieser DDR nur Ärger damit hat und macht, Bruno, dem Brigadier, den Betonbauern und nicht zuletzt Julia, der jungen Frau, die ihn braucht. Es fehlt nicht an Auseinandersetzungen und Komplikationen, ehe Josef, der getriebene und sich treibenlassende Außenseiter, durch die behutsame, aber konsequente Hilfe der Menschen an seiner Seite erkennt, dass er, der bisher immer einer Hölle entkommen war, um in eine andere zu geraten, nun eine Heimat gefunden hat. Aus dem Springer wird ein Hydrauliker beim höchsten Schornsteinbau der Welt, ein Mann, der mit dem Kollektiv Verantwortung übernimmt. Und Julia sagt zu ihm: Weißt du, was du bist? Ein Heber. Hebst und hebst. Der Roman „Zum Beispiel Josef“ wurde 1974 in der Regie von Erwin Stranka von der DEFA verfilmt. Die Musik wurde von Uve Schikora komponiert und vom DEFA-Sinfonieorchester und der Uve-Schikora-Combo eingespielt. Die Hauptrolle des Josef spielte damals Jürgen Heinrich. Julia war Petra Hinze. Mit dabei ist übrigens auch die Sprecherin der DDR-Hauptnachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ Christel Kern als Sprecherin der „Aktuellen Kamera“. Und so beginnt die vier Jahre vor der Verfilmung veröffentlichte literarische Vorlage von Herbert Otto – mit einer Weigerung:
„Er wollte nicht zu Julia. Gestern hatte er daran gedacht, in die Stadt zu fahren, um in eines der großen Tanzlokale zu gehen. Es lohnte sich nicht, wenn es schnell und einfach ging, und wenn es versprach sich zu lohnen, ging es nicht schnell genug. Er war nicht gefahren und nicht zu Julia gegangen, sondern hatte geschlafen. Er konnte lange Zeit mit sehr wenig Schlaf auskommen, und dann konnte er wieder vierzehn Stunden durchschlafen, aufstehen für zwei, drei Bier, sich hinlegen und weiterschlafen. Manchmal ruhte er während der freien Tage überhaupt nicht aus. Und es wurden ganz wilde Tage. Diesmal lagen sie mitten in der Woche, von Montag bis Freitag, was selten vorkam. Eine Gitarre hatte er immer noch nicht gekauft, obwohl er in einen Laden gegangen war, um Instrumente anzusehen. Es war wohl noch zu früh. Das allererste Instrument damals war eine Laute. Die Schwester hatte außerdem eine Theorbe gehabt, eine vierzehnsaitige. Die war schwer zu spielen und hatte einen harten, brüchigen Klang, und später hat er nie wieder eine Theorbe gesehen.
Er hatte keinen Plan gemacht für die freien Tage. Er hätte irgendwohin fahren können. An die Küste würde er irgendwann fahren, wieder Schiffe sehen und einen Hafen und langsam auf einer Mole hinausgehen, wenn der Wind von See kommt. Geruch von Weite, Salz und Fisch. Nicht dass er Sehnsucht gehabt hätte nach einem Schiff. Trotzdem wäre er gern an die Küste gefahren. Er wollte damit noch warten, bis es richtig Sommer war. Es war jetzt Mitte Mai.
Die ersten beiden Tage verschlief Josef. Er wachte Mittwoch vormittag auf. Die Sonne schien. Unten im Hof saß Frau Billmann und putzte Grünzeug. Sie saß auf der Bank am Schuppen in der Sonne. Manchmal ließ sie ihre Hände ein Weilchen ausruhen. Er würde heute den Schalter reparieren. Wenn Sie das machen wollen, und wenn es Sie nicht belästigt. Sie freute sich rührend über so etwas, die alte Frau. Er würde heute eine Feder besorgen oder gleich einen neuen Schalter. Dann Mittagessen. Vielleicht am Bahnhof. Er traf Stefan in der Stadt. Was machst du? Nichts. Und du? Als sie vor drei Wochen ins Kino fuhren, mit dem Bus, den sie Gummidampfer nannten, hatten sie nebeneinander gesessen. Stefan gehörte nicht zur Brigade, war aber trotzdem mitgefahren. Seine Sache am Turm waren die Aufzugswinden. Das heißt alles Elektrische an den Winden. Sie nannten ihn den Südschweden. Er stammte aus einem Dorf in Mecklenburg. Auf der Baustelle sah man ihn nie ohne irgendwelches Zeug in den Händen: kleine Kartons, Draht, Kabel, Kneifzange. Die anderen Elektriker behaupteten von ihm: ein Tag, an dem er nicht irgendwo ein Relais einbauen kann, ist für ihn ein versauter Tag. Josef traf ihn gegenüber der Milchbar, und Stefan trug nichts bei sich und sah regelrecht nackt aus mit den leeren Händen.
Er trifft also zufällig den Südschweden, Garten-, Ecke Bebelstraße, und alles wird anders weiterlaufen. Ereignisse werden kommen, die sonst nicht oder viel später gekommen wären, und es wäre mit ihm anders weitergegangen, schmerzlicher oder belangloser oder komischer. Was machst du so? Gar nichts. Und du? Noch kein Relais eingebaut heute? Wird nachgeholt. Heute scheint Sonne, und man sollte mit dem Boot aufs Wasser. Du hast ein Boot? Ich miete ein Boot. Mehr ein Kahn. Der große und der kleine Kolksee. Naherholungszentrum hinter Kolkwitz, wenn du das kennst. Kenn ich nicht. Naherholung.
Kann nur das Gegenteil sein von Fernerholung. Erklär mir den Unterschied. Welchen Unterschied? Den zwischen Nah- und Fernerholung. Und wer sich fern erholt. So eine dumme Frage habe ich nie gehört. Fernerholung. Wie kommst du auf das Wort? Naherholung gibt es, und in unserem Falle liegt das hinter Kolkwitz. Alles, was weiter weg liegt, ist einfach Erholung. Am kleinen Kolksee mieten wir jedenfalls den Kahn. Am großen steht das Schloss. Da wohnt deine Tante? Da wohnen Kinder, und bei den Kindern arbeitet Loni. Heute bis um zwei. Viertel nach eins geht der Bus. Ich hol sie ab, und wir gehen still durch den Wald zum kleinen Kolksee und mieten dort das Boot.
Ich habe nichts weiter vor, sagte Josef. Dann komm mit, sagte Stefan. Wir lassen uns schon nicht stören. Kann ja sein, es findet sich noch wer, der Lust auf Bootfahren hat. Loni arbeitet nicht alleine bei den vielen Kindern. Eine ihrer Freundinnen hat vielleicht Lust auf Bootfahren. Sie nahmen den Bus Viertel nach eins und standen auf der hinteren Plattform. Zwei Stationen später stieg sie ein. Er hatte sie sofort gesehen, als die Tür aufging. Dunkles Haar, halblang, das ihr Gesicht fast verdeckte, und er sah die kleine Kopfbewegung und wie das Haar nach beiden Seiten zurückfiel. Die Stirn und die Augen. Warum sah sie ihn nicht an. Vor ihr stieg eine Frau ein mit zwei kleinen Kindern, und er und Stefan hoben die Kinder in den Bus, halfen auch der Frau. Wo war das Mädchen? Er war erschrocken, dass sie plötzlich verschwunden war. Der Bus fuhr schon wieder. Alles nur Sekundenbruchteile. Eben stand sie noch da, blaurotes Kleidchen, sehr kurz, und sie hatte ihn nicht ansehen wollen.
Sie war vorn eingestiegen. Da saß sie, und es war viel Platz ihr gegenüber und neben ihr. „Warum setzen wir uns nicht“, fragte Josef. „Sie arbeitet auch dort“, sagte der Südschwede. „Kennst du sie?“ „Flüchtig. Sie ist nie dabei, wenn irgendwas gefeiert wird oder beim Baden. Sie fährt immer sofort nach Hause.“ „Scheu“, sagte Josef. „Sie heißt Ute“, sagte Stefan. „Was weißt du noch?“ „Nichts. Hat Abitur gemacht und kam dann dorthin. Bleibt aber nicht. Sie will studieren.“ „Und noch?“ „Ihr Vater muss Arzt sein oder so was. Wenn ich sie mal im Bus sehe oder wenn sie zur Nachtwache kommt und Loni ablöst, immer hat sie ein Buch und liest.“ „Liest vielleicht zu viel“, sagte Josef. „Das gibt’s. Und kommt nicht zum Leben. Jetzt guckt sie aus dem Fenster. Komm, wir setzen uns.“ Stefan schüttelte den Kopf. „Du stellst sie mir vor. Wir quatschen sie an.“ „Hat keinen Sinn.“ „Vielleicht fährt sie zum Bootfahren.“ „Sie fährt zur Arbeit. Um zwei.“ „Kann sein, ja.“ Und dann fragte Josef: „Wie lange fahren wir noch?“ „Zehn, zwölf Minuten.“ „Ich geh jetzt hin.“
Érstmals 2000 veröffentlichte Siegfried Maaß im dr. Ziethen Verlag Oschersleben seinen Roman „Und hinter mir ein Loch aus Stille“, in dem es um ein brisantes, keineswegs einfaches Thema geht: Ein Junge tötet seinen Vater. Eine Nachricht, die zu anderen Gewaltnachrichten zu gehören scheint, die uns täglich erreichen. Beziehungen zwischen Menschen, Familienbindungen scheinen nichts mehr zu gelten, Werte verloren zu sein. Doch Siegfried Maaß zeigt, dass das Leben nicht so einfach ist. Gerade an der Tat, die scheinbar bestätigt, dass familiäre Beziehungen keine Basis mehr haben, weist er nach, dass ein Mensch zum Täter werden kann, gerade weil ihm noch Werte vermittelt wurden, er mit der Tat diejenige rettet, der er vertraut und die er liebt. Er hat einen realen Fall gewählt, um den Ursachen nachzuspüren, zu prüfen, ob das, was sich so in den Vordergrund drängt, das Bild bestimmt, auch die Wirklichkeit ist. Siegfried Maaß schreibt über Gewalt in der Familie. Es ist kein einfacher Stoff, aber so, wie er ihn behandelt, macht er Mut und Hoffnung. Wir treffen den Jungen hinter einer verschlossenen Tür:
„1.
Sie hat die Tür hinter sich geschlossen und mir die leeren Blätter zurückgelassen. Einen dicken Stapel weißer Blätter. Als Tapete könnte die Menge für die halbe Wand ausreichen. Für die Wand in diesem miesen kleinen Loch, wo sie mich schmoren lassen, um mich kleinzukriegen. Das einem kaum genug Luft zum Atmen lässt, weil das einzige Fenster, das sich fast unter der Decke befindet, dicht verschlossen ist. Kein einziger Laut kommt von außen an mich heran. Dieses Loch aus Stille heißt bei ihnen Verwahrraum.
Aber für mich bedeutet es: Freiheitsberaubung. Das Wort kenne ich von meinem Vater. Sie haben aber kein Recht dazu, mich hier einzulochen und darauf zu warten, dass ich schwarz wie Ötzi werde. Ich nicht! Eher sie selbst! „Da kannst du aber warten, bis du schwarz wirst!“ Das ist so ein Satz von Herta für alle Gelegenheiten, wenn sie mich entweder abwimmeln oder mir klarmachen will, dass es nicht gibt, was ich gern möchte. Wenn ich irgendwann etwas aufschreiben sollte, müsste ich ihnen dabei erklären, dass mit Herta meine Mutter gemeint ist Aber das wissen sie vielleicht schon. Wahrscheinlich wissen sie inzwischen alles und wollen nur, dass ich von mir aus sage, was ich weiß und sie gern hören möchten. Nämlich dass ich zugebe und gestehe, es getan zu haben. Sie wollen, dass ich mich selbst verrate. Oder Herta. Weil sie vielleicht doch noch im Dunkeln tappen?
Aber nichts werden sie von mir erfahren. Weil ich nämlich nichts sagen werde. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt schon einmal etwas gesagt habe. Ich habe keine Stimme. Deswegen kam die Frau mit dem Papierstapel. Als ich sie sah, musste ich gleich an die Nixe denken, die ich als kleiner Junge auf einem bunten Bild in einem Märchenbuch entdeckt hatte. Herta hatte es mir geschenkt und es stellte meine ganze Bibliothek dar. Sie versprach mir damals, manchmal daraus vorzulesen, und immer, wenn ich sie daran erinnerte, fiel ihr eine andere Ausrede ein, und sie vertröstete mich auf den nächsten Abend. Bis ich nicht nur auf sie, sondern auch auf das Buch wütend war und es zerfetzte. Nur das Bild der Nixe rettete ich und heftete es mit einer Reißzwecke an die Wand neben meinem Bett.
Bevor ich einschlief, unterhielt ich mich mit ihr und beichtete ihr alle meine kleinen Geheimnisse. Sie konnte gut zuhören, wie niemand sonst, und wenn ich auch ihre Stimme nicht vernehmen konnte, so verstand ich ihre Antworten trotzdem. Sie klangen freundlich und verständnisvoll und ließen mich beruhigt und zufrieden einschlafen. Im Schutz der Nixe erwachte ich dann am nächsten Morgen und blinzelte zu ihr hinauf …
So lange, bis mein Vater eines Tages das schöne Bild aufgebracht von der Wand riss und es zerknüllte. Er schimpfte Herta aus, weil sie es duldete, dass ich mir „Märchenfiguren“ hinhängte statt wie andere Jungen Fußballstars oder Rennfahrer. „So wird nie ein richtiger Kerl aus ihm!“, schrie er, und ich starrte auf die Stelle an der Wand, von wo aus mir noch vor Kurzem die Nixe zugelächelt hatte. Mein Vater wusste nicht, dass auch Herta das Bild an der Wand nicht gefallen hatte, doch aus einem anderen Grund – sie nahm es mir übel, dass ich das hübsche Buch zerrissen hatte.
Inzwischen hatte ich meine Nixe längst vergessen. Doch durch diese Frau werde ich wieder an sie erinnert. Natürlich hat sie keinen Fischschwanz, sondern im Vergleich zu Herta ziemlich lange Beine, die in engen Röhrenhosen stecken. „Schreib einfach auf, was du erlebt hast und was du weißt. Das befreit, und dann kannst du auch bald wieder richtig Luft holen.“ Sie war schon an der Tür, als sie hinzufügte: „Und wenn du dich freigeschrieben hast, kannst du auch wieder sprechen. Danach reden wir dann über alles.“ Ich will aber nicht sprechen. Kein Wort. Ich bin sogar froh, keine Stimme mehr zu haben.
Ein dicker Stapel leerer Blätter. Vor mir auf dem Tisch. Und auch mehrere Stifte dazu. Die Nixe hat an alles gedacht. Wenn ich eine Stimme hätte, könnte ich behaupten, nicht schreiben zu können. Aber sie wissen genau, dass ich es kann, denn ich habe meine alten Schulhefte bei ihnen gesehen, die sie aus unserer Wohnung mitgenommen haben. Wer weiß, wozu und warum. Haben ihnen vielleicht meine Geschichten gefallen, die darin aufgeschrieben sind?
2.
In der Schule werden sie bestimmt auch gewesen sein, um sich nach mir und meinem Verhalten zu erkundigen. Wenn sie dabei an Körner, den sturen grauen Esel geraten sind, haben sie nichts Gutes zu hören bekommen. Für den bin ich einfach nur ein fauler Schwänzer, der die Schule und die Lehrer für so überflüssig wie sonst nichts weiter im Leben hält. Für den jede Mühe, die die Schule ihm bereitet, umsonst ist, weil sowieso nichts aus ihm werden kann. So denkt Körner von mir. Das hat er mir auf den Kopf zugesagt.
Miss Betty wird jedoch gut für mich ausgesagt haben, Miss Betty, unsere Deutsch- und Englischlehrerin. Bei ihr beteilige ich mich gern am Unterricht, da schnipse ich schon mal mit den Fingern, weil ich die richtige Antwort weiß. Für Miss Betty sind wir keine wesenlosen Monster wie für Körner, die nimmt uns richtig ernst und macht trotzdem mal einen Spaß mit uns. Fragt auch nach unseren Vorstellungen vom Leben und unseren Wünschen. Von ihr werden sie erfahren haben, dass ich im Schreiben nicht schlecht bin, sogar über dem Durchschnitt liege.
Früher, noch in der Grundschule, als an Miss Betty noch nicht zu denken war, hat es mir immer am meisten Spaß gemacht, mir irgendeine Geschichte auszudenken. Das war eine Lieblingsidee unserer Lehrerin. Danach haben mich die anderen oft gefragt, ob ich das alles erfunden hätte oder ob es die Wahrheit wäre. Dass ich mir das alles ausdenken konnte, haben sie mir nicht zugetraut. Aber die Wahrheit?
Als ob es in Wirklichkeit vorkommen würde, dass eine Meute glitschiger Seehunde aus unserem schmutzigen Fluss heraufrobbt, dann über die Brücke patscht und den gesamten Verkehr lahmlegt. So war es nämlich in einer meiner Geschichten. Wohin man auch blickte – die Tiere glitzerten und glänzten im Sonnenlicht, als wenn die ganze Straße mit einer nassen Folie bespannt worden wäre. Langsam zog die Folie nun über Brücke und Straße und nahm einfach kein Ende.
Als ich mit meiner Geschichte begonnen hatte, wollte ich nur beschreiben, wie ein Rudel Seehunde durch unsere Stadt zieht und die Kinder sich über den ungewöhnlichen Anblick freuen. Die Mutigsten von ihnen liefen zu den Tieren, um sie zu berühren. Andere aber rannten kreischend davon und blieben erst in sicherer Entfernung stehen, um sowohl die Seehunde wie auch die mutigen Kinder zu bestaunen. Es sollte ja auch eine Geschichte zum Staunen werden. Die man eben gern liest, weil etwas geschieht, das nicht alltäglich ist. Aber plötzlich kam es mir in den Sinn, die Menschen böse und angriffslustig zu machen, weil sie sich über die verstopfte Straße ärgerten und deshalb wütend über die Tiere herfielen. Grausam schlachteten sie die Seehunde ab und zogen ihnen schließlich die Felle über die Ohren, und Brücke und Straße glichen hinterher einem einzigen großen Blutmeer.
Ich weiß noch ganz genau, wie mein Herz zum Hals hinaufschlug, als mich Frau Ruda, unsere Lehrerin, aufrief, weil ich meine Geschichte allen vorlesen sollte. Ihr Gesicht verriet mir leider nicht, was ihre Absicht dabei war. Hielt sie, was ich aufs Papier gebracht hatte, für so gut, dass es unbedingt jeder hören sollte? …“
Erstmals 1969 brachte der Deutsche Militärverlag das Buch „Jeder Abschied ist ein kleines Sterben“ von Heinz Kruschel heraus: Wolfgang Wittig stammt aus einer alten Offiziersfamilie und dient vor dem geplanten Kunststudium als Fähnrich bei der Bundeswehr. Aus humanistisch-ethischen Gründen strebte er ein Verfahren gegen den Soldatenschinder Unteroffizier Lingner an, der wegen seiner Jugend nur eine Bagatellstrafe erhielt. Aber Lingner sinnt nach Rache, die ihm zu gelingen scheint. Nachdem bei einem NATO-Manöver zwei Soldaten aus Wittigs und Lingners Verantwortungsbereich einen gesundheitlichen Dauerschaden erleiden und nur mühsam mit dem Leben davonkommen, gibt es für Wittig nur zwei Möglichkeiten: Die Herbeiführung eines Prozesses zur schonungslosen Aufdeckung der Probleme in der Bundeswehr und damit die Abkehr von der Wittigschen Familientradition. Oder die Nutzung der Beziehungen seines Vaters, um alles im Sande verlaufen zu lassen. Wird Wittig sich von seinem bürgerlichen Elternhaus lösen und vorbehaltlos zu seiner Freundin Doris Rappsilber und ihren in den letzten Kriegstagen desertierten, seitdem durch Ärztepfusch blinden Vater stehen? Wittigs Schulfreund Ingo, Kriegsdienstverweigerer und Redakteur einer sehr kritischen, linken Zeitung, unterstützt ihn dabei. Heinz Kruschel zeigt in dem spannenden Buch die Entwicklung junger Menschen vor dem Hintergrund dramatischer Ereignisse 1968 in der Bundesrepublik Deutschland, wie der Kampf gegen den Vietnam-Krieg, die geplanten Notstandsgesetze und die Durchsetzung der Bundeswehr mit Offizieren aus dem Zweiten Weltkrieg. Unsere erste Begegnung mit dem Helden des Buches findet in einem Hotel statt, präziser formuliert in einem christlichen Hospiz:
„WOLFGANG
Wo bin ich, wer bin ich, wie kann ich mich finden? Was habe ich mir dabei gedacht, Doris zu überreden, mit mir in ein Hotel zu gehen, in dieses christliche Hospiz am Hauptbahnhof mit der Bibel und der Zahlkarte für die Brüderschaft von Herrnhut auf dem Nachttisch? Ich habe sie beleidigt. Ich muss sie ja beleidigt haben, ein Zimmer für eine Nacht bitte, im ersten Stock, Nummer 187.
Schnell an dem alten Portier vorüber. Möchten Sie noch etwas trinken, mein Herr, nur was Alkoholisches haben wir nicht. Die Morgenandacht findet um neun Uhr gleich im Hause statt …
Doris ist mitgekommen, still, fügsam. An den Zimmertüren vorüber, 182, 183, 185. Hohe Damenschnürschuhe stehen auf dem Gang, sieht traurig aus, so eine Reihe altgedienter Schuhe, die die knittrigen Schäfte hängen lassen, die Schuhe frommer Schwestern. Das letzte Zimmer, Nummer 187. Unser Zimmer, ein Spruch auf dem Radio: „Ich will ihr Trauern in Freude verwandeln und sie trösten und erfreuen nach ihrer Betrübnis …“
Kein Licht machen, Liebster. Aber das Fenster führt nach hinten hinaus, die riesigen Scheinwerfer einer Baugrube erhellen das schmale Zimmer, Maschinen stampfen, die Zahnputzgläser zittern, Bagger beißen in alte Kellermauern, widerwärtiges Geräusch. Vor dem Fenster ist kein Rollo. Doris’ Haut ist weiß und kühl, sie zieht die Decke bis zum Hals und hat die Augen geschlossen. Da hast du deinen Willen, Fähnrich. Meinen Willen? Wirklich meinen Willen? Ich liebe dich, ich schäme mich.
Ich drücke auf die Taste des Radios. Jazzmusik, eine Frauenstimme singt, der Gesang ist unsentimental und herb, es ist die Fitzgerald; sie möchte ich einmal formen, eine Kleinplastik der Negersängerin, die Musikalität dieser kraftvollen Frau erfassen und gestalten können …, aber das ist ein Traum, nichts als ein Traum. Warum denn ein Traum? Was hindert mich, wer hindert mich, das zu tun, wenn ich den Dienst hinter mir habe? Ich werde Doris heiraten, die Kunsthochschule besuchen, das ist möglich, und das werde ich tun … Ein Traum. Ist Doris vielleicht ein Traum?
Mein Vater ist dagegen, meine Mutter auch. Das ist klar, Mutter hat Vaters Meinung. Sie sind gegen meinen Wunsch, Bildhauer zu werden. Und auch gegen Doris. Das hat Vater nie direkt gesagt, aber ich weiß, dass er gegen sie ist. Nichts gegen die Freundschaft, aber alles gegen dieses kleine Mädchen aus dem Buchladen. Aber was kümmert mich mein Vater? Er lebt ohne mich sogar zufriedener. Bei Doris ist das was ganz anderes, ihr Vater ist blind, und er braucht sie …
Doris schlägt die Augen auf und sieht mich an. „Komm endlich von diesem Fenster weg und mach den Mund auf“, sagt sie, „was ist los mit dir? Du hast doch was, ich kenne dich …“ Ich setze mich auf den Bettrand und küsse sie und streichele sie, aber sie schiebt mich weg. „Bitte, Wolf“, sagt sie, „was ist geschehen?“
Geschehen. Geschehen ist eigentlich nicht viel. „Du erinnerst dich an Lingner?“, frage ich. „An diesen widerwärtigen Kerl? Er ist wieder da, er ist mir zugeteilt worden, als wohlbestallter Unteroffizier. Das ist doch Schikane …“ „Ich erinnere mich gut“, sagt sie, „es kann ein Zufall sein.“ Sie kennt die Gepflogenheiten nicht. Vor einem Jahr, ich war noch Gruppenführer, war ein junger Rekrut ins Krankenhaus eingeliefert worden, ich besuchte ihn und sprach mit dem Arzt. Der Rekrut hatte eine Bauchwunde und gab vor, hingefallen zu sein. Dem Arzt erschien das seltsam, mir auch. Ich sprach mit dem Rekruten. Er kam mir verängstigt vor, aber er blieb bei seiner Begründung.
Ich redete mit seinen Kameraden. Es stellte sich heraus, dass der Unteroffizier Lingner ihn bestraft hatte. Der Rekrut hatte im Unterricht versagt und die Himmelsrichtungen verwechselt. Daraufhin ließ ihn Lingner unter den Stühlen nach Osten, Süden, Norden und Westen kriechen und bestellte ihn nach dem Unterricht zu sich. Ich ging wieder ins Krankenhaus und quetschte die ganze Geschichte aus dem Jungen heraus. Während der Rekrut fünfzig Liegestütze absolvieren sollte, war Lingner unaufmerksam oder tat nur so, als wäre er unaufmerksam, jedenfalls blieb der Soldat auf dem Bauche liegen und zählte nur noch. Lingner merkte das, ließ den Soldaten noch zwanzig Liegestütze nachholen und hielt ihm dabei das aufgeklappte Taschenmesser unter den Bauch. Der Rekrut machte schlapp und fiel in das Messer.
Ich nahm mir den Unteroffizier vor und verlangte von ihm Rechenschaft. Lingner war erst achtzehn Jahre alt und sagte: „Ich bin auch so hart ausgebildet worden, und heute will ich gute, harte Soldaten ausbilden, der Formal-Dienst verlangt den Leuten viel zu wenig ab.“ Ich war einigermaßen entsetzt, weil ich erwartet hatte, einen zerknirschten Ausbilder anzutreffen, ich wollte mit ihm die Angelegenheit bereinigen, denn der Rekrut hatte mich gebeten, die Sache auf sich beruhen zu lassen, weil er Angst hatte. Aber nun machte ich eine Meldung und verlangte die Bestrafung Lingners. Nicht allen meinen Vorgesetzten war das recht, der Nagold-Prozess war erst vorbei, die Presse überschlug sich noch, das Ausland schlachtete die Vorfälle aus, nicht nur der Osten, auch unsere Verbündeten, und so wurde das Verfahren schnell „abgewickelt“. Fast alle Zeugen – bis auf den Unteroffizier Baer – rückten von mir ab, und der Unterausbilder wurde vom Oberamtsrichter für vier Wochen in den Jugendarrest geschickt. Er kam so milde davon, weil das Gericht der Meinung war, dass er „als Jugendlicher die Tragweite seiner Taten noch nicht recht begreifen konnte“. Ich verstand das nicht.
Ich begriff auch nicht die Rekruten, die mir gegenüber immer verschlossener wurden. Aber Baer sagte zu mir: „Die Rekruten betrachten dich nicht als Freund, das werden sie nie tun. Du wirst bald versetzt, ein anderer wird kommen. Für die Rekruten bist du Offizier, die Obrigkeit, die Macht. Du setzt dich für sie ein. Aber davon hast du doch keinen Schaden. Sie haben nur den Schaden, wenn du dich für sie verwendest …“ Baer stellte nach dem Prozess den Antrag, als Wehrdienstverweigerer anerkannt zu werden, und er schaffte es auch. Nach langen Verhandlungen kam er damit durch. Ich aber ließ mich in der Rüstzeit von Pfarrer Branstner, dem Geistlichen der Truppe, überzeugen, nichts zu unternehmen.
Nun aber war Lingner wieder da, Unteroffizier Lingner … Ich gebe zu, inzwischen hat sich manches in der Truppe geändert; die Ausbildung eines überzeugten Soldaten steht im Vordergrund, sagt der Kommandeur, Lingner aber ist ein Platzeck. „Du hättest sehen sollen, wie er vor mir stand, als er sich bei mir meldete, nein, er griente nicht, aber er hatte einen Ausdruck im Gesicht wie eine Eule bei Nacht. Ich habe das Gefühl, dieser Mann hat sich nicht geändert …“ „Er ist doch jung, er kann sich geändert haben, du bist ganz einfach fertig, Wolf“, sagt Doris.
Sie küsst mich, ich möchte mich bei ihr entschuldigen, dass wir in dieses dämliche Hotel gegangen sind, aber ich vergesse das, während sie mich küsst, während das Radio den Straßenzustandsbericht sendet, während die Bagger schrappen und die Scheinwerfer ihr grelles Licht in das Zimmer gießen …“
Und damit sind wir bei den beiden Super-Preis-Angeboten angelangt, die in dieser Woche für jeweils nur 99 Cents zu haben sind: Ein Band aus der Templer-Reihe von Ulrich Hinse und der zweite Teil der Fantasy-Geschichte über Nadja Kirchner von Johann Nerholz. Obwohl dieses Buch erst am 15. Februar erschienen ist, lagen bis dahin schon knapp 100 Vorbestellungen vor – offenbar hat der erste Teil kräftig neugierig gemacht.
Aber zunächst zu dem 2015 bei der EDITION digital sowohl als E-Book wie auch als gedruckte Ausgabe erschienenen historischen Roman über die Südamerikareise der Templer „Der Traum des Templers und seine Reise über das Atlantische Meer“ von Ulrich Hinse – zugleich 2. Teil von „Das Gold der Templer“: Joao Lourenço, ein Templer, der als Johann Laurenz in der Nähe von Aachen groß wurde, hatte im Auftrag des Großmeisters Jaques de Molay einen Teil des Templervermögens nach Portugal gebracht. Mit Vertrauten des König Dionysius gelingt es, den in vielen christlichen Ländern verfolgten Templern eine neue Heimat in Portugal zu sichern und sie als Orden der Christusritter zu etablieren. Von dem Bischof von Lamego hört Joao, dass in Córdoba muslimische und jüdische Gelehrte Astronomie, Geografie und Kartenzeichnen unterrichten. Das interessiert ihn und er studiert die für Christen neuen Wissenschaften. Er kommt zu der Überzeugung, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel und auch Jerusalem nicht der Nabel der Welt ist, wie es die christlichen Mönche vermittelten. Er ist sicher, dass hinter dem Horizont des Atlantischen Meeres im Westen noch anderes Land liegen muss. Joao träumt davon, dorthin zu fahren. Er erwirbt ein schnelles Templerschiff, lässt es durch Handwerker des Ordens umbauen und wirbt Templerbrüder an, die mit ihm ins Unbekannte fahren wollen. Joao Lourenço findet das von Jan van Koninck (siehe „Das Gold der Templer“) versteckte Gold und finanziert damit die Umsetzung seines Traums. Mit den herbstlichen Passatwinden fahren sie übers Meer nach Westen. Ein Roman aus der Zeit des tiefsten Mittelalters mit ehrenhaften Rittern, dogmatischen Klerikern, gelehrten Muslimen und erfinderischen Juden. Und natürlich mit fiesen Schurken. Wir treffen Johann Laurenz alias Joao Lourenço in einem traurigen Moment:
„1. Kapitel
Joao Lourenço war Tempelritter. Und er stellte etwas dar. Und das wusste er auch. Sein Selbstbewusstsein war groß, aber nicht so überzogen, dass er arrogant gewirkt hätte. Eigentlich hieß der große, kräftige, junge Mann gar nicht Joao Lourenço, sondern mit richtigem Namen Johann Laurenz, war Sohn eines angesehenen Kaufmanns und stammte aus der Nähe von Aachen. Er hatte sich im Zorn von seinem Elternhaus getrennt, war nach Paris gelangt und hatte dort zu den Templern gefunden, wo er zunächst bei dem Präzeptor Gerard de Villars als Knappe gedient hatte. Der Ritter hatte seine Gewandtheit und seine Intelligenz erkannt und so war er zum Ritter aufgestiegen und zusammen mit dem Flamen Jan van Koninck in den Orden aufgenommen worden. Mit Jan hatte er sich verbunden gefühlt, weil der ein ähnliches Schicksal erlitten hatte. Joao war bei den anderen Rittern beliebt, wegen seiner Umsichtigkeit geachtet und wegen seiner Körperkraft und Geschicklichkeit im Umgang mit den verschiedensten Waffen gefürchtet. Nicht zuletzt deshalb hatte Jaques de Molay, der Großmeister des Templerordens, den dunkelblonden Mann mit den ebenmäßigen Gesichtszügen aus dem kleinen Ort Heristal nahe Aix la Chapelle zu einem der Männer bestellt, die den Schatz der Templer in Sicherheit bringen sollten. Joao war knapp dreißig Jahre alt und deutlich größer als die meisten Männer seiner Zeit. Er überragte sie um mehr als eine Haupteslänge. Stolz trug er den weißen Mantel mit dem leuchtendroten Kreuz auf der Brust, den er erst vor gut einem Jahr von Jaques de Molay verliehen bekommen hatte, als er in den Orden aufgenommen worden war.
Unter dem Mantel war das Kettenhemd zu erkennen und sein kräftiges, dunkelblondes, langes Haar wurde durch die Kapuze des Kettenhemdes verdeckt. Das Schwert an seiner linken Seite wurde nur unzureichend von dem Mantel verhüllt. Sein Gesicht war offen und wurde, anders als bei den meisten Tempelrittern, von einem gekräuselten Vollbart umrahmt. Er erschien allen, die mit ihm zu tun hatten, als ein freundlicher Mensch. Keiner hatte das Gefühl, sich vor ihm fürchten zu müssen. Wenn es aber sein musste, war er ein unerbittlicher, ja gelegentlich gnadenloser Streiter für den Glauben und seinen Orden.
Es hatte ihm wehgetan, als er von Jaques de Molay von der bevorstehenden Verhaftung aller Templer in Frankreich in Kenntnis gesetzt wurde. Geehrt hatte ihn das Vertrauen seines Großmeisters, der ihn als Vertreter des Ritters Gerard de Villars einsetzte. De Villars wurde beauftragt, einen Teil des riesigen Ordensvermögens vor dem Zugriff des französischen Königs zu retten. Mit Schiffen des Ordens, die im Hafen der Stadt La Rochelle lagen, sollten sie nach Süden fahren. Das genaue Ziel kannte nur de Villars. Sein Freund Jan van Koninck, ein Ritter aus Flandern, der mit ihm zusammen im Temple de Paris ausgebildet und in die Reihen der Tempelritter aufgenommen worden war, sollte mit einem Wagenzug nach Kastilien und weiter zur Templerfestung Ponferrada. Ein weiterer Wagenzug der Templer sollte von der Kanalküste nach England übersetzen, um sich dort in Sicherheit vor ihren Verfolgern zu bringen.
Knapp ein Jahr war vergangen, als sie sich von Paris aus in Bewegung gesetzt hatten. Nahe Orleans hatten sich die Wagenzüge getrennt. Villars und er waren Richtung La Rochelle weitergezogen, während Guido de Voisius und Jan van Koninck in Richtung der alten Westgotenresidenz Rennes le Chateau weitergefahren waren. Überraschend hatten sie sich im Sommer, der auf die Verhaftungen folgte, in der Templerfestung Ponferrada im iberischen Königreich Kastilien y Leon wiedergetroffen. De Villars hatte die Templerschiffe in einem kleinen Hafen in Asturien entladen lassen, um sie dann mit ihren Mannschaften nach, wer weiß wohin, zu entlassen. De Villars hatte Joao die Fracht und das Kommando übergeben und wollte allein auf dem Landweg nach Barcelona und von dort weiter zu den Ordensbrüdern nach Mallorca. Joao hatte sich für Portugal entschieden. Warum, wusste er nicht. Es war nur so ein Gefühl gewesen.
Jetzt stand Joao Lourenço in einer kleinen Kirche in Galiziens Bergen gut eine Tagesreise südlich von Ponferrada und ebenso weit von der portugiesischen Grenze nördlich Bragança entfernt. Tränen rannen seine Wangen hinunter. Am Altar stand ein Mönch, der vor den Tempelrittern eine Totenmesse zelebrierte. Vor einer halben Stunde hatten sie vor dem Portal der kleinen Kirche seinen Freund Jan van Koninck beerdigt. Er war im Kampf gegen Söldner des französischen Königs, die ihn verfolgt hatten, um ihm das Gold der Templer abzunehmen, schwer verwundet worden. Die Hilfe durch Joao und seine Männer war eine halbe Stunde zu spät eingetroffen. Joao hatte zwar die Söldner niedergemacht, aber seine Ordensbrüder konnten nicht mehr gerettet werden. Jan hatten sie schwer verletzt vom Schlachtfeld geborgen und zu einem nicht weit entfernten Kloster gebracht. Aber die Mönche konnten auch nichts mehr für ihn tun. Auf seinen Wunsch hin hatten sie Jan von Koninck nach Santiago de la Requejada getragen, wo er vor dem Portal der kleinen Kirche bestattet werden wollte. Joao hatte sich zwar gewundert, aber der Wunsch seines Freundes war ihm Befehl gewesen. Der Abt hatte ihnen einen seiner Mönche als Wegkundigen mitgegeben, der auch die Totenmesse zelebrieren sollte.
Und so waren Joao und seine Mannen den mühsamen Weg hinauf in die Berge geritten und an der kleinen, verlassenen Kirche angekommen. Verwundert hatte sich Joao umgesehen. Der Ort war ganz offensichtlich unbewohnt, die Häuser von allen Menschen verlassen. Einige wenige Ziegen grasten in der Nähe und ließen vermuten, dass Hirten anwesend waren. Zu sehen waren sie nicht. Seltsam war, dass genau hier in dieser Einöde Jan van Koninck hatte begraben werden wollen.
Die heilige Messe war wie im Nebel an Joao vorbeigegangen. Zu sehr beschäftigten ihn seine Gedanken. Aus diesen wurde er gerissen, weil der Mönch zur heiligen Kommunion bat. Joao ging wie in Trance nach vorn und stieg die wenigen Stufen zum Altar hinauf. Dort kniete er sich nieder und wartete auf die Hostie. Nachdem er sie erhalten hatte, verneigte er sich vor dem Kreuz auf dem Altar. Sein Blick fiel dabei auf eine Ecke des Altarsockels. In dieser Kirche, die schon seit Jahren nicht mehr genutzt worden war und die jetzt erst wieder eine heilige Messe erleben durfte, starrte alles vor Staub. Nur die Ecke am Altar war sauber. Bevor Joao aufstand, sah er sich noch einmal um. Staub und Dreck, wohin er auch sah. Dann blickte er wieder auf die Sockelecke. Hier lag nicht ein Körnchen Dreck. Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass der Altar und auch der Sockel darunter vor nicht langer Zeit bewegt worden sein mussten.“ Wenn das nicht spannend klingt …
Sehr spannend und sehr fantasy-voll geht es im zweiten Teil der Nadja-Kirchner-Fantasy-Reihe von Johan Nerholz zu. „Nadja Kirchner und die gefährlichen Wesen der Halbwelt“ ist wie gesagt soeben bei der EDITION digital sowohl als E-Book wie auch als gedruckte Ausgabe erschienen: Die elternlose Nadja Kirchner lebt bei ihren Großeltern und hat Raben als Freunde, die in der trockenen Senke leben, die sich in der Nähe ihres Dorfes befindet. Sie ist die Bannherrin der Senke und trägt damit zum Schutz der Raben bei. Diese Raben sind magisch. Sie und weitere Gestalten, die mit den Raben verbündet sind, haben ihr vieles beigebracht, das kein normaler Mensch beherrscht. Damit kann sie sich in der Welt der Menschen besser behaupten. Seit einem Jahr haben die Raben ihren Frieden mit Korfylos geschlossen und auch Nadja kann wieder in Ruhe leben. Aber dann passiert etwas, dass man ihr unbedingt verheimlichen will. Nur durch Zufall erfährt sie davon. Kurz vor den Sommerferien erfährt sie, dass ihr einstiger Beschützer und Freund, der ehemalige Dämonenhund Takesch, bei der Verteidigung ihrer Welt und der der Geister und Raben in die Halbwelt entführt wurde. Er und seine Gefährtin Dinara lebten seit nunmehr einem Jahr an der Grenze dieser Welt und trugen zum Schutz der Welten bei, in der die Menschen, die Raben, Geister und alle anderen Gestalten leben. Niemand kann Takesch dort, wo er jetzt ist, noch helfen. Die Gefahr ist groß, dass er in der Halbwelt beeinflusst und als Waffe gegen die Raben und die Geister eingesetzt wird. Kaduro, der Herrscher der Halbwelt, will auch diese Welten einverleiben und beherrschen. Nadja beschließt, Takesch aus den Fängen des Herrschers der Halbwelt zu befreien. Dabei zieht sie sich den Zorn von Rontur, dem Anführer der Raben, zu. Heimlich bricht sie auf. Am Anfang begleitet sie der Hund Prutorius, der seinen Dämon abgeschüttelt hat. Nach und nach kommen immer mehr dazu, um ihr beizustehen. Auch in der Halbwelt findet sie Helfer. Sie erlernt weitere Strategien der Verteidigung und trotzdem ist sie am Ende froh, dass sie nicht allein in der Zwischenwelt ist. Es kommt zum entscheidenden Kampf, bei dem Geister, Raben und alle anderen Verbündeten zur Stelle sein müssen. Wird sie es schaffen, Takesch aus den Fängen des Kaduro zu befreien? Der zweite Teil der Nadja-Kirchner-Fantasy-Reihe von Johan Nerholz beginnt mit einem Tabubruch, wie die allererste Kapitelüberschrift lautet:
„Der angebrochene Morgen war kalt. Leichter Nebel hatte sich gebildet. Das Gras war feucht und überall roch es frisch. An diesem Junimorgen herrschte am Rande des Gebirgszuges eine ungewöhnliche Stille. Es schien so, als warteten alle auf etwas.
Zwei Personen standen bewegungslos in der Mitte der riesigen Grasfläche und starrten in eine Richtung. „Die Ruhe ist unheimlich.“ Der Mann, der das sagte, war ein alter Haudegen. Er hatte einen kahl rasierten Schädel. Das Gesicht war starr und regungslos. Die Augen blickten kalt und grausam. Unter der kurzärmligen Kleidung sah man muskulöse Arme mit vielen Narben.
Die andere Person summte zustimmend. Sie sah in stoischer Gelassenheit nach vorn. „Die anderen sind bereit und warten auf deine Befehle!“ Der Haudegen sah sich um. „Etwas anderes habe ich nicht erwartet.“ Die Antwort war leise und heiser. „Wir müssen schnell sein. In kürzester Zeit sind sie sonst da.“ Der alte Haudegen sagte das mehr zu sich. „Ich weiß!“ Der andere Mann reagierte mit größter Gelassenheit. „Das ist mir klar!“ Der Narbige wendete sich nun dem anderen voll zu. „Machst du dir Sorgen?“ Prüfend wurde der Haudegen begutachtet. „Man weiß nie, was einen erwartet, wenn man in deren Welten ist. Gerade diese Raben haben einen siebten Sinn dafür entwickelt, wann es brenzlig wird. Deren Anführer ist mit allen Wassern gewaschen.“
Im Gesicht des Narbigen machte sich ein angeekelter Ausdruck breit. „Den siebten Sinn haben sie gelernt. Rontur ist klug und nicht umsonst ihr Anführer!“ Der andere Mann schien Verständnis zu haben. Aber der Narbige schien das nicht zu teilen. Er hatte jetzt einen hasserfüllten Gesichtsausdruck und sah zum Fürchten aus. „Die Raben waren mir immer unheimlich und beizukommen ist denen nicht. Sie sind schlimmer als die Pest, wenn sie erst da sind. Es gibt einfach zu viele davon.“ Der Narbige prüfte die Gegend vor sich, als wären sie schon da. „Sie werden alt, sind dennoch sterblich und wollen überleben.“ In der Stimme des anderen Mannes war immer noch Gleichmut. „Leider klappt das bei denen richtig gut. Wenn die erst hier sind, sind ihre Anhänger auch nicht weit. Dann wird es ungemütlich.“
Den anderen Mann schien das nicht sonderlich zu interessieren. „Damit werden wir fertig!“ „Trotzdem! Jeder von denen scheint sieben Leben zu haben.“ Der andere Mann hob die Arme an. „Sie wissen sich zu schützen.“ „Das kann man wohl sagen.“ Der Narbige schnaubte verächtlich. „Es wird nicht einfach. Dennoch werden wir es wagen.“ Der Mann klang entschlossen. „Hauptsache, sie merken nicht zu früh, was Sache ist!“ Der Narbige sah sich um.
„Das werden sie und dann zahlreich erscheinen. Bis dahin ist hoffentlich alles erledigt.“ Der Angesprochene wendete nun seinen Blick hinter sich. Der Haudegen schien zu erraten, wonach sein Gesprächspartner suchte und in ihm kam Stolz hoch. „Du wirst keinen sehen. Sie haben sich bestens getarnt.“ „Das ist gut!“ Der andere Mann nickte bedächtig. „Aber sie werden schnell sein.“ Ein weiteres Nicken war die Antwort. Dann ging der andere Mann nach vorn. Der alte Haudegen war mit etwas Abstand gefolgt. Nun richtete er erneut das Wort an den anderen. „Wir müssen das Gebiet zügig sichern.“ „Das dürfte kein Problem sein. Das Gebiet ist klein und unscheinbar.“ Die leise Stimme klang gelassen. „Warum wir gerade dieses Gebiet einnehmen wollen, wirst du mir sicherlich nicht sagen.“ Der Narbige versuchte, in dem Gesicht seines Gesprächspartners zu forschen. „Wenn alles erledigt ist.“ Dann tastete er nochmals das Gebiet vor sich mit Blicken ab. „Wir brechen ein Tabu!“ Der Narbige sagte das mit Nachdruck. „Das ist mir nicht neu!“ „Raskara als Anführerin der Geister wird sich das nicht gefallen lassen.“ Der Angesprochene wendete sich erneut dem anderen zu.
„Was will sie tun? Ehe sie sich mit dem Riesenraben Rontur und mit dessen Widersacher Korfylos verständigt hat, haben wir Tatsachen geschaffen.“ „Mit ihr ist nicht zu spaßen!“ Der Narbige sagte das mit Unbehagen. „Sie hat keine Chance.“ Der andere Mann klang teilnahmslos. Er wendete wieder seinen Blick von dem Narbigen ab. „Was ist mit Korfylos?“ Der Narbige schien es wissen zu wollen. „Hat auch keine Chance!“
„Ich dachte, du vertraust ihm!“
„Ich traue keinem und Korfylos ist schwach geworden.“
„Korfylos und schwach!“, rief der Narbige ungläubig.
„Du hast richtig gehört!“
„Wie kommst du darauf?“
„Man erzählt, dass ihn vor einem Jahr beinahe ein Menschenkind besiegt hätte. Das war zu einem Zeitpunkt, als er auf sich allein gestellt war. Seitdem läuft er Gefahr, ein Spielball der Gegenseite zu werden. Wir werden ihn über kurz oder lang nicht mehr gebrauchen können!“
„Was hast du eben gesagt?“ Fassungslos sah der Narbenmann jetzt den anderen an.
„Ich denke, du hast mich verstanden!“
„Ein Kind? Ich dachte immer, Korfylos ist unbesiegbar.“
„Das ist er nicht. Wenn man sich gegen ihn verbündet, kommt er auch nicht weit. Die Raben haben ihm seine Grenzen aufgezeigt. Auch Raskara hat sich eingemischt. Sein Image hat jetzt Risse. Er ist geschwächt.“
„Ausgerechnet ein Kind? Niemand hat das bisher geschafft!“ Der Narbige schüttelte ungläubig den Kopf.
„Dieses Kind hat es geschafft, ihn zu demütigen. Dafür ist es aber nicht allein verantwortlich. Korfylos hat einen Riesenfehler gemacht.“
„Was gab es denn noch?“
„Er hat sich von einem Menschen, der sich die Unsterblichkeit verschaffte, manipulieren lassen.“
Der Haudegen sah noch erstaunter aus. „Korfylos als Manipuliermasse?“
Der andere Mann nickte. „Korfylos war sehr erbost. Aber er konnte den angerichteten Schaden nur noch begrenzen. Ungeschehen ließ er sich nicht mehr machen.“
„Woher weißt du das?“
„Es sollte ein Geheimnis bleiben. Das war aber so ungeheuerlich gewesen, dass doch irgendwer alles erzählte und so kam die Sache auch mir zu Ohren!“
Aus der Stimme des anderen Mannes konnte man einen leisen Triumph heraushören.“
Wie schon an diesem Anfang von „Nadja Kirchner und die gefährlichen Wesen der Halbwelt“ zu erkennen ist, wartet das Buch mit vielen Gefahren für Nadja und ihre Freunde auf. Und sie müssen sich jede Menge einfallen lassen, um diesen Gefahren Paroli bieten zu können. Einer Gefahr werden dagegen die Leserinnen und Leser wohl kaum entgehen können. Der Suchtgefahr. Der Weiterlesen-Sucht, um unbedingt zu erfahren, wie es weitergeht und ob es Nadja und ihren Freunden tatsächlich gelingt …
Und wer ist und welche Rolle spielt denn nun eigentlich Korfylos?
Viel Spaß beim Lesen und bis demnächst.
EDITION digital wurde 1994 gegründet und gibt neben E-Books (vorwiegend von ehemaligen DDR-Autoren) Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern.
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