Wie wir den Engeln das Fliegen beibrachten

Wir schreiben das Jahr 2006. Es ist nachts halb zwei. Ich sitze mit meiner Schwester in der Küche, auf dem Tisch steht die zweite Flasche Wein. Wir hatten italienisch gekocht, vor uns standen die leeren Spaghetti-Teller. Darauf zu sehen waren Bilder von schönen, schlanken Frauen, die im hautengen roten Abendkleid durch die Nacht schlenderten (genau das Richtige für das Figurgefühl nach einem Teller Spaghetti und drei Gläsern Wein …). Wir schauten uns die Bilder an und sprachen über die Firma unseres Vaters, die er 1929 gegründet hatte. Ja, ihr habt richtig gelesen: 1929. Da war er, Jahrgang 1904, 25 Jahre alt. Ich bin 1974 geboren – da war mein Vati 70. Und meine Schwester ist nochmal neun Jahre jünger als ich … Wir erlebten mit ihm eine wunderschöne Kindheit, er wurde neunzig Jahre alt – und ich bin mir sicher, dass wir zwei Kinder und unsere junge Mutti einen großen Anteil daran hatten, dass er bis zum letzten Tag fit und vital war.

Unser Vater rettete das Unternehmen durch den Krieg, überstand ein schweres Hochwasser, das den gesamten Warenbestand vernichtete, und exportierte die kunstvollen Erzeugnisse in über 60 Länder der Welt. Zu DDR-Zeiten wurde unser Vati enteignet. Dann kam die Wende, doch er war zu alt, um die Firma zurücknehmen – er war damals schon weit über 80. Dennoch ging Vati bis ins hohe Alter jeden Tag in sein „Kontor“ und arbeitete, bis er 87 war. 1995 wurde der Betrieb von der Treuhand verkauft – doch in unseren Herzen waren wir ihm immer noch verbunden. Wie oft hatte ich als Kind in den Holzspänen gespielt oder unter dem Bürostuhl meines Vatis kleine Welten gebaut. Hier vergaß ich die Zeit.

Seit fast 100 Jahren stellt die Manufaktur in traditioneller Handarbeit kunstvolle Figuren aus Holz her. Ein Markenzeichen sind seit vielen Jahrzehnten die reich verzierten Engel. An jenem Abend, nach der zweiten Flasche Wein, kamen meine Schwester und ich ins Träumen. Wie schön wäre es, wenn wir die Engel wieder zum Fliegen bringen könnten – in moderner Form, so wie es unserem Frauenbild entsprach. Denn die traditionellen Holzengel kamen eher bieder daher: Mit ihrer Schürze standen sie da und hielten zwei Kerzen in der Hand – als Symbol für die treue Ehefrau des Bergmanns, die ihm das Licht hält und geduldig wartet, bis er nach seiner langen Schicht im Silberschacht nach Hause kommt. Wir wollen nicht warten, bis unser Mann nach Hause kommt, um das Licht anzuzünden, dachten wir – wir sind selbst das Licht! Und Schürze tragen wir auch keine mehr. Wir tragen ein enges rotes Kleid und feiern es mit selbstbewusstem Schwung – so wie die schönen Frauen, die auf unseren Spaghetti-Tellern aufgemalt waren. Und so fing mein Stift, wie immer, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hat, ganz von selbst an zu schreiben. Und zu zeichnen. Er malte einen kühnen Schwung auf die Serviette – eine Frauen-Silhouette, eine hingehauchte Form. Zwei Striche, die sich zu einem schönen Frauenkörper fügten. Dazu ein schlanker Hals, ein Kopf, der nicht rund war, sondern oval, und kokett zur Seite blickte, als schiene er zu fragen: Na, kommst du mit in meine Welt?

Eine Idee war geboren: Wir holen die Holzengel unseres Vatis ins dritte Jahrtausend. Doch wie sollten wir unseren Plan in die Tat umsetzen? Wie kommt ein Engel von einem Blatt Papier in eine kunstvoll gedrechselte Form? Das konnte uns nur einer beantworten: der Chef der Manufaktur. Wir wohnten direkt gegenüber, und so schlenderte ich am nächsten Tag mit meinen wilden Zeichnungen über die Straße und präsentierte ihm stolz unsere „Entwürfe“. Er lachte. Wie sollte er daraus etwas drechseln? Ich sage euch: Jeder andere hätte uns hochkant rausgeschmissen. Doch weil uns Gundolf Berger seit Kindertagen kannte, gab er unserer Idee eine Chance. Er sagte: „Ich brauche eine 3D-Form. Dann kann ich es probieren.“ Wie sollten wir eine 3D-Form zaubern? 3D-Drucker gab es damals noch nicht, und auch dafür hätten wir ein aufwändiges Programm gebraucht. Da hatte ich die zündende Idee: Wir backen uns einfach unseren Engel! Aus Salzteig! Ab in die Küche und ran an den Ofen, ich war richtig heiß. Ich rührte und rollte und knetete, bis unter meinen Fingern meine Engel-Idee Form annahm. Jaaa, das konnte man gelten lassen … Stolz lief ich mit dem Backbrett, auf dem mein Salzteig-Engel lag, erneut über die Straße. Gundolf Berger lachte wieder. Dieses verrückte Huhn gibt nicht auf, dachte er wohl. Doch er wusste nun, was ich wollte. Und er legte sich ins Zeug.

Denn was wir uns ausgedacht hatten, war technisch eine Herausforderung. Wir wollten, dass unser Engelkörper asymmetrisch schwingt – mit einem schönen runden Po und einer attraktiven Oberweite. Traditionelle Engelformen sehen anders aus. Denn Drechseln ist immer rotationssymmetrisch. Das Holzstück wird auf die Drehbank gespannt und dreht sich rasend schnell um die eigene Achse. Der Handwerker steht mit dem Drechseleisen daneben und sticht während der Rotation das Holz ab, so dass die gewünschte Form entsteht. Diese Form ist immer symmetrisch, denn jeder Punkt am äußeren Radius ist durch die Drehbewegung des Holzstücks gleich weit weg von der Mittelachse. Deshalb haben traditionelle Holzengel dort, wo sich hinten der Po rundet, vorn einen dicken Bauch. Und dort, wo sich der Busen wölbt, haben sie hinten einen Buckel. Nun kamen wir, mit unserem Entwurf von wohlgeformten Frauenkörpern, die zwar auch Po und Busen hatten, aber eben nicht überall gleich rund waren …

Wie war das zu lösen? Gundolf Berger tüftelte und tüftelte. Er kaufte sich Modezeitschriften und Anatomiebücher. Das war der leichtere Teil. Doch wie sollte er es technisch umsetzen? Wie kam er von „überall gleich rund“ zu „vorne zwar Busen, aber hinten kein Buckel“? Eines Nachts hatte er die zündende Idee: Wir setzen den Engelkörper aus zwei Teilen zusammen! Einem Hinterteil, das auf Po-Höhe die richtige Rundung hatte, und einem Vorderteil, das weiter oben aus- und einladend war. Ab mit der Idee an die Drehbank. Es funktionierte. Er drechselte zwei Teile, schnitt sie in der Mitte auseinander und verklebte sie sorgfältig. Nur passten die Kanten jetzt nicht mehr aufeinander. Sie mussten aufwändig verschliffen werden. Gemeinsam mit einem erfahrenen Drechsler probierten sie so lange, bis sie mir voller Stolz ein Ergebnis präsentierten, das sich wirklich sehen lassen konnte. Das erste Muster steht heute noch bei mir im Schrank, neben dem Holzbrett mit dem Salzteigmuster, das nach fast 20 Jahren immer noch gut aussieht.

Noch ein bisschen Finetuning – den Körper noch etwas gestreckter, den Hals etwas länger, den Kopf noch ein Stück mehr zur Seite geneigt – wir waren zufrieden. Die Sternkopf-Engel waren geboren.

Nur war die Herstellung durch das Drechseln von zwei verschiedenen Formen, das Verkleben, Verschleifen und händische Polieren so aufwändig, dass die neuen Engel weitaus teurer sein mussten als herkömmliche Holzfiguren. Als Gundolf mir den Preis sagte, den sie kalkulieren mussten, musste ich schlucken. Über 160 Euro – fast doppelt so teuer wie der Preis, den andere Engel in dieser Größe kosteten. Doch meine Entscheidung war getroffen. Ein Zurück gab es nicht mehr. Die Engel sollten fliegen. Und sie hoben ab.

Wie schafften wir das? Nun – nicht, indem wie sie als Produkte beschrieben. Sondern indem wir ihre Geschichte erzählten. Wir erzählten die Geschichte von den zwei Schwestern, die ihrem verstorbenen Vati ein Denkmal setzen wollten. Wir erzählten die Geschichte von den zwei Flaschen Wein nachts halb zwei und den Spaghettitellern mit den schlanken Frauen darauf. Wir erzählten die Geschichte von unserem Bild der modernen Frau, die nicht wartet, bis der Mann nach Hause kommt, sondern ihr Licht auch allein anzündet. Und so wurden die Engel weitaus mehr als schöne Holzfiguren – sie wurden zu einem Symbol für selbstbewusste Frauen. Für Frauen mit natürlicher Weiblichkeit.

Die Geschichten fanden Resonanz. Offensichtlich erkannten sich viele Menschen darin wieder. Zeitungen wurden auf uns aufmerksam, Zeitschriften und Fernsehsender. Unsere Engel kamen auf RTL, im ZDF und in allen bekannten Frauenzeitschriften. Ich wurde zu Weihnachtssendungen mit berühmten Musikstars eingeladen. Wir gaben ein eigenes Engelmagazin heraus und erzählten die Storys im Internet. Wir flogen mit ihnen nach New York und präsentierten sie in der deutschen Botschaft in London. Bis heute haben wir tausende Menschen mit unseren Engeln glücklich gemacht: als Geschenk zum Geburtstag oder zur Hochzeit, als Weihnachtsschmuck oder Ganzjahres-Deko. Jedes Jahr erzielt die Manufaktur damit sechsstellige Umsätze.

All das wäre nicht geschehen, wenn wir unsere Engel nur als reines Produkt betrachtet hätten. Doch wir sahen in ihnen von Anfang an mehr. Wir sahen in ihnen von Anfang an den Funken, der Menschen bewegt und begeistert. Und wir sahen in ihnen die Geschichten – unsere eigenen Geschichten und die Geschichten all der Menschen, denen wir damit eine Freude machen. Das ist Magic Marketing.

 

Über Dr. Sternkopf media group

Dr. Sylva-Michèle Sternkopf gründete im Jahr 2000 ihre Agentur für strategisches Marketing mit Fokus auf internationalem Storytelling. Ihre Worte wirken für 59 der Top 100 Marken der Welt.

Die „Queen of Storytelling“, wie sie sich selbst mit einem Augenzwinkern nennt, hat 4 Kinder, 4 Unternehmen und 1000 bunte Ideen. Sie ist Autorin, Übersetzerin, Geschichtenerzählerin, international gefragte Marketings-Strategin, Mentorin & Inspiratorin. Eines dieser 4 Firmenprojekte ist eine eigene Kollektion aus Erzgebirgs-Engeln, mit der sie der Traditionsmanufaktur, die ihr Vater 1929 gründete, neuen Schwung gab.

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