Mit bislang noch vereinzelt geplanten Maßnahmen wie dem DokHVG oder der Ausweitung von Videoverhandlungen verspüren Juristen einen regelrechten Ruck: Hin zum großangelegten Change Management im Rechtswesen. Der digitale Trend ist längst treibende Kraft in Bereichen wie Industrie, Wirtschaft, Bildungswesen und öffentlichen Institutionen. Unter Juristen herrscht aber Skepsis darüber, ob ihre Domäne mit einer zunehmenden Digitalisierung ebenso leichtfertig starten kann, wie manch anderer Sektor.
Ist es sinnvoll, die in vielen Lebensbereichen absolut sinnvolle Digitalisierung eher unreflektiert auch dem Justizsystem überzustülpen? Es wäre fatal, wenn die Digitalisierung aus einem Gefühl des Zeitgeistes heraus leichtfertig begonnen und sich erst später als unkontrollierbar und fatal herausstellen würde.
Justizreformen falsch aufgezäumt?
Mit der digitalen Dokumentation von Verhandlungen könnte jedem Richter die Möglichkeit aus der Hand genommen werden, ein Ergebnisprotokoll zu fertigen. Rechtsanwältin und Verlegerin Dr. Sabine von Göler gibt dabei zu bedenken:
„Auf den Punkt gebracht würden die jeweiligen Protokollierungen von Ergebnisprotokollen auf Verlaufsprotokolle umgestellt. Wenn beispielsweise ein Zeuge auf eine Frage mit ‚sozusagen‘ antwortet, konnte der Richter bislang schon aufgrund der Mimik und des Verhaltens selbst bewerten und festhalten, ob es sich um eine Zustimmung handelt oder ob im Gegenteil eine Abweichung von der Fragestellung ausgedrückt werden soll.“
Damit gibt Frau Dr. von Göler nur eines von unzähligen Beispielen, mit denen Schwachstellen einer digitalen Dokumentation und Kritikpunkte an einer solchen Reform deutlich werden. „In Zukunft könnte diese Bewertung dann eine unklare Personenzahl im Nachhinein durchführen und die Beweismittel fast grenzenlos in Frage stellen“, ergänzt sie. Mimik und Verhalten seien indessen in der digitalen schriftlichen Dokumentation nicht enthalten: „Dadurch dürfte die Effektivität des Rechtsschutzes ganz erheblich in Frage stehen.“
Digitale Dokumentation: Wenig Effektivität, viel Interpretationsspielraum
Durch das bislang gängige Ergebnisprotokoll sind Parteien allein schon dadurch geschützt, dass sie Protokollberichtigungsanträge stellen dürfen und bereits während der Verhandlung Rückfragen und eigene Befragungen einbringen können. „Mit einer digitalen Dokumentation müsste Zeugen zudem wohl ab sofort eine bestimmte Sprache auferlegt werden, was wiederum eine erhebliche Beschneidung des Rechts auf eigenen Ausdruck darstellen könnte“, beschreibt die erfahrene Anwältin und bezieht sich dabei auf Art. 1, 2 GG.
Mit dem neuen Gesetzesbeschluss werden auch Assoziationen zum amerikanischen Gerichtswesen geweckt. Dr. Sabine von Göler stellt dazu aber klar: „In den USA entscheidet im Strafrecht die Jury, und damit Rechtslaien. Das dortige System ist nicht vergleichbar mit unserem, auch nicht bezüglich der Vor- und Nachteile der Dokumentationswege über Videokonferenzen oder gerichtliche Verlaufsprotokolle.“
e-Akte und Informationssysteme bei Gericht mit Datenschutz-Bedenken
Auch bei Umstellungen auf e-Akten fordert von Göler höchste Vorsicht und Sorgfalt: „Es sollte rechtlich absolut sichergestellt sein, dass ausschließlich der zuständige Spruchkörper und fest definierte Dritte wie z.B. die Geschäftsstelle über den Schlüssel zum elektronischen Aktenschrank verfügen. Nicht geregelten Dritten, die als Nichtjudikative mitlesen könnten, muss der Zugang stets strengstens verwehrt bleiben.“ Die Bereitstellung einer zentralen Cloud für sämtliche e-Gerichtsakten durch Justizministerium oder von diesen kontrollierte -wie auch immer bezeichnete- Dienstleister, würde eine substantielle Durchbrechung der Gewaltenteilung bedeuten. Damit hätte die Exekutive den Zentralschlüssel zu jeder Gerichtsakte. Ist es vorstellbar, dass jemand so diszipliniert ist, über solch einen Zentralschlüssel zu verfügen, ihn aber nicht nutzt? Theoretisch denkbar wäre es…
Ein weiterer Zentralschlüssel liegt möglicherweise heute schon in den Händen der Exekutive: Die Verträge für die Bereitstellung juristischer Informationssysteme erlauben die Weitergabe selbst von richterlichen Suchanfragen an mindestens die Landesregierungen, wobei die Berechtigten in den Verträgen unklar als „die Länder“ bezeichnet werden, was eine enorm weite Auslegung zulassen könnte.
Daher sollte bei Rechtsrecherchen in gerichtlichen Informationssystemen laut Dr. von Göler sichergestellt sein, dass niemand die Auswertungen von (richterlichen) Suchanfragen an juristische Informationssysteme erhalten und auswerten kann. „Die Zusammenschau der Suchanfragen zum Fall ließen sich ggf. wie ein Handbuch zur einzelnen Falllösung durch den Richter lesen.“
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