Dem Mythos Fachkräftemangel auf der Spur

Maschinen kommen, Menschen fehlen? Bundesweit klagen Unternehmen über den Fachkräftemangel – und suchen nach Strategien, um sich zukunftsfähig aufzustellen. Der Austausch von Wissenschaft und Wirtschaft beim vierten TUM Talk der Technischen Universität München am Bildungscampus Heilbronn zeigte, an welchen Herausforderungen weder Unternehmen noch Politik und Gesellschaft vorbeikommen.

Die Hoffnungen sind groß – und vorerst übertrieben: So groß das Potenzial von Automatisierung und Künstlicher Intelligenz sein mag, aktuell kann die digitale Technologie die allermeisten Arbeitsplätze zwar unterstützen, aber nicht ersetzen. Zu übereifrig in den Ergebnissen, zu unerfahren bei Entscheidungen, sagte Chris Russell, Dieter Schwarz Assistenz-Professor für Künstliche Intelligenz, Führung und Politikgestaltung an der Universität Oxford: „Künstliche Intelligenz verhält sich aktuell wie ein Praktikant am ersten Arbeitstag: sehr enthusiastisch, sehr erpicht – und sehr zögerlich, auch mal ‚Nein‘ zu sagen.“

Der Impuls des Wissenschaftlers eröffnete kürzlich eine lebhafte Diskussion unter den über 150 Teilnehmenden beim TUM Talk am Bildungscampus Heilbronn. Unter der Überschrift „Fachkräfte der Zukunft – ein Mythos?“ diskutierten Vertreterinnen und Vertreter aus Universitäten und Unternehmen bei der mittlerweile vierten Auflage des Netzwerkformats am TUM Campus Heilbronn.

Chance für unternehmerisches Engagement

In Vorstandsbüros wie Personalabteilungen, in Produktionshallen und Kaffeeküchen ist der Fachkräftemangel bundesweit Gesprächsthema. „Man muss sich wirklich etwas einfallen lassen, um den Laden am Laufen zu halten“, sagte Albert Berger, Kanzler der TU München. Aus der Herausforderung könne dabei eine Chance werden, ergänzte Professor Dr. Helmut Krcmar, Beauftragter des Präsidenten für die Entwicklung des TUM Campus‘ Heilbronn. Etwa für „engagierte Unternehmerinnen und Unternehmer, die eine gute Chance haben, sich mit klugen Konzepten im Wettbewerb abzusetzen.“

Diese Aufgabe haben zahlreiche Unternehmen bereits angenommen. Auch wenn sie dafür jahrzehntelang erprobte Traditionen über Bord werfen müssen. Die Bonuszahlung könne etwa mittlerweile – je nach Lebensphase – in einen Zuschuss für die Altersvorsorge oder eine Gutschrift für das Zeitkonto umgewandelt werden, berichtete Angela Todisco, Head of Human Resources EMEA North beim Softwarekonzern SAP. Neben einer sinnvollen Arbeitsaufgabe helfen solche Programme, Mitarbeiter zu gewinnen – und zu halten: „Wir sehen, dass wir mit vielen kleinen Stellschrauben unheimlich tolle Dinge realisieren können“, sagte Todisco.

Wandel wird das neue Normal

Gleichzeitig sehen sich Unternehmen in ihren Bemühungen jedoch ausgebremst. Politik und Bürokratie erschweren es, alle potenziell verfügbaren Arbeitskräfte zu erreichen – trotz des absehbaren demografischen Rückgangs. Das gelte beispielsweise für die zu hohe Zahl an Schulabgängern wie auch für die für zu geringe Unterstützung für berufstätige Mütter, mahnte Stefan Wolf, Präsident der Arbeitgebervereinigung Gesamtmetall. Auch ausländische Fachkräfte hätten zunehmend weniger Interesse, sich auf deutsche Inserate zu bewerben: „Wir können nicht erwarten, dass sich qualifizierte Fachkräfte in die lange Schlange vor dem Ausländeramt einreihen“, kritisierte Wolf und warb für ein Einwanderungsgesetz nach dem Vorbild Kanadas.

Klar ist: Die Unsicherheit ist an vielen Stellen groß. Wie viel können, wie viel müssen Unternehmen tun, um Mitarbeiter von sich zu überzeugen und zu halten? Welche Rolle kann und wird Technologie spielen, um Angestellte zu entlasten – oder gar Arbeitsplätze ganz zu übernehmen? Wie stark werden sich Anforderungen an Mitarbeiter über ein Berufsleben verändern? „Die Veränderung ist überall“, konstatierte Roland Hehn, Personalvorstand von Schwarz Dienstleistungen.

Die einzelnen Strategien, so das Resümee der TUM-Talk-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer, werden auf lange Zeit immer spezifischer werden. Die Grundlage in allen Positionen sei jedoch Veränderungsbereitschaft. Die werde vorausgesetzt und müsse nicht mehr in Stellenanzeigen stehen, sagte Jutta Balletshofer vom Pharmakonzern Organon. Auch Stefanie Leiterholt, President Human Resources & Legal bei WMF, kommuniziert diesen Kulturwandel in vielen Gesprächen mit beunruhigten Mitarbeitern: „Es wird sich was ändern – aber das wird uns Sicherheit geben.“

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