Worum geht es:
Historisch wurden in deutschsprachigen Obstsortenverzeichnissen über 1000 Birnensorten ausführlich beschrieben, aber da es keinen Bestimmungsschlüssel wie in der Botanik gibt, ist eine Bestimmung mittels Buchwissen so gut wie unmöglich. Heute sind nur noch etwa 300 Sorten namentlich vorhanden. Allerdings gibt es in Deutschland nicht mehr viele Expertinnen und Experten, die über entsprechendes Wissen verfügen. Sie gehören zu den Pomologen oder Obstbaumkundlern, die sich der Lehre der Arten und Sorten von Obst sowie deren Bestimmung und systematischer Einteilung verschrieben haben.
Diese Sorten und ihre Eigenheiten kennenzulernen und zu beschreiben, ist in Zeiten des Klimawandels sehr wichtig. Denn viele der alten Sorten auf den Streuobstwiesen sind deutlich weniger krankheitsanfällig und wesentlich resistenter gegen Hitze und Trockenheit als die „neuen“ Sorten, die wir aus dem Supermarkt kennen. Sie bergen damit ein erhebliches Potenzial für zukünftige Züchtungen. Das aber nur, wenn sie bezeichnet werden können, in ihren Eigenschaften erkannt und in Baumschulen vermehrt werden.
Weil Birnbäume ein sehr hohes Alter von bis zu 200 Jahren erreichen können, besteht Hoffnung, dass es für die Untersuchungen noch nicht zu spät ist. Auf Obstwiesen, in Hausgärten oder an Feldrändern stehen noch viele, meist sehr alte Bäume mit einer Vielzahl an Sorten mit wertvollen Eigenschaften.
Eine Möglichkeit zum Erhalt einzelner Sorten bietet die Erfassung des molekulargenetischen Fingerabdrucks, erklärt Michael Heißenberg. Er möchte mit seinen Mitstreitern in den nächsten zwei Jahren den genetischen Fingerabdruck von mehr als 600 Proben nehmen lassen, mit der Sortenkenntnis der Pomologie zusammenführen und dann wiederum die Daten der Fachwelt und der Öffentlichkeit kostenfrei zur Verfügung stellen.
Wie hat die Faszination für Bäume und Obst bei dem heute 65-Jährigen angefangen? Es war wohl als junger Mensch, gleich nach dem Abitur, als er Assistent des Künstlers Joseph Beuys wurde, bevor er sich dann den Computern zuwandte und eine Firma gründet. Der Künstler Beuys pflanzte 1982 auf der documenta 7 in Kassel 7000 Eichen als Landschaftskunstwerk unter dem Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“. Michael Heißenberg unterstützte ihn dabei und wählte die Basalt-Stelen aus, die zu jedem der Bäume gestellt wurden.
Später dann war es der uralte Apfelbaum auf dem Grundstück des Nachbarn, der ihn wieder aktiv werden ließ. Dem drohte nämlich die Fällung – und Heißenberg wollte das nicht hinnehmen. Er schnappte sich ein paar Früchte und besuchte einen Pomologen-Kongress. Dort war das Erstaunen riesig, denn die Apfelsorte galt als so gut wie ausgestorben. Seither hat das Thema Heißenberg nicht mehr losgelassen. Er hat nicht nur gelernt, aus einjährigen Trieben (Edelreisern) von Apfel, Birne, Quitte und Steinobst junge Bäume zu ziehen und zu veredeln, sondern hat auch auf rund 90 Flächen mehr als 4200 Bäume der alten Sorten als „lebendige Genbank“ gepflanzt. Sogar eine Fläche in der Hamburger Hafencity und eine auf einem großen Hamburger Friedhof gehören dazu.
Anhand einer modernen „Alexander Lucas“-Birne aus dem Obstkorb erklärt er im Gespräch, worauf bei einer Bestimmung zu achten ist. Wie sitzt der Stiel? Welche Farbe hat er? Wie lang ist er und welche Struktur weist er auf? Welche Form hat die Frucht? Wie ist die ehemalige Blüte an der Unterseite geformt? Welche Farbe und Form hat die Birne? Gibt es Rost? Wie sehen die Kerne aus?
„Es gibt nicht mehr viele Menschen, die dieses Wissen haben“, sagt Heißenberg. Deshalb ist es ihm ein Anliegen, die noch vorhandene Sortenkenntnis mit der Genetik in einer Datenbank zu verbinden. Ist das Projekt beendet, soll es in verschiedene, der Öffentlichkeit zugängliche Datenbanken eingespeist werden und der Allgemeinheit zur Verfügung stehen.
Dann wissen die Verantwortlichen in Landwirtschaft oder auch in Städten, welche Sorten für welche Standorte auch in Zeiten des Klimawandels geeignet sind. Außerdem können gezielt Birnensorten gezüchtet werden, die weniger Wasser benötigen und weniger Schädlingsbekämpfung. „Wir wollen für die Zukunft Wissen erhalten“, unterstreicht der Mitinitiator des Projekts. Und Begeisterung wecken. Denn, wer ihm zuhört, bekommt selbst Lust, Bäume aufzuziehen und so mit den eigenen Händen der Klimakrise und dem Niedergang der Artenvielfalt etwas entgegenzusetzen.
Die Klaus Tschira Stiftung (KTS) fördert Naturwissenschaften, Mathematik und Informatik und möchte zur Wertschätzung dieser Fächer beitragen. Sie wurde 1995 von dem Physiker und SAP-Mitgründer Klaus Tschira (1940–2015) mit privaten Mitteln ins Leben gerufen. Ihre drei Förderschwerpunkte sind: Bildung, Forschung und Wissenschaftskommunikation. Das bundesweite Engagement beginnt im Kindergarten und setzt sich in Schulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen fort. Die Stiftung setzt sich für den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein. Weitere Informationen unter: www.klaus-tschira-stiftung.de
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