Problematische Dauerverordnungen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln in Heimen finden sich unter anderem im gesamten Saarland sowie in Nordrhein-Westfalen, wo 45 der 53 Kreise und kreisfreien Städte auffällige Ergebnisse aufweisen. „Eigentlich sollten pflegebedürftige Menschen maximal vier Wochen mit den untersuchten Schlaf- und Beruhigungsmitteln behandelt werden. Denn bei Dauereinnahme drohen unter anderem Abhängigkeit, erhöhte Sturzgefahr und die Entstehung von Angstgefühlen, Depressionen und Aggressionen“, betont Dr. Antje Schwinger, Forschungsbereichsleiterin Pflege beim WIdO. „Die Auswertung der Verordnungsdaten bestätigt den Befund zahlreicher Studien, dass hier ein ernsthaftes Versorgungsproblem besteht, das regional sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.“
Große Spanne bei Klinikeinweisungen von Demenzkranken wegen Dehydration
Deutliche regionale Unterschiede zeigten sich auch bei neun weiteren analysierten Themen an der Schnittstelle zwischen Pflege und Gesundheitsversorgung: So hatten laut der Auswertung im bundesweiten Durchschnitt knapp 4 Prozent aller an Demenz erkrankten Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen 2021 einen Krankenhausaufenthalt, der durch unzureichende Flüssigkeitszufuhr verursacht war. In den 20 Kreisen mit den auffälligsten Werten (95% Perzentil) waren es dagegen zwischen 7,5 und 12,5 Prozent der Pflegeheimbewohnenden mit Demenz. Auffällige Kreise finden sich in Bayern, vor allem an der deutsch-tschechischen Grenze, in Niedersachsen, im Süden von Rheinland-Pfalz sowie in Nordrhein-Westfalen.
„Der Qualitätsatlas Pflege macht derartige Informationen zu Problemen an der Schnittstelle zwischen Pflege und Gesundheitsversorgung erstmals kleinräumig sichtbar“, so Antje Schwinger. Das neue Portal biete den Kranken- und Pflegekassen, aber auch den Verantwortlichen in den Regionen ab sofort die Chance, regionale Auffälligkeiten zu erkennen und gezielt anzugehen.
Zeitreihen zeigen positiven Trend bei Klinikaufenthalten am Lebensende
Die WIdO-Analysen für den Pflege-Report beruhen auf den Abrechnungsdaten der elf AOKs, die rund ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland versichern. Dabei wurden die Daten aus der Kranken- und aus der Pflegeversicherung einbezogen und miteinander verknüpft. Insgesamt sind die Daten von rund 350.000 Pflegeheim-Bewohnerinnen und -Bewohnern ab 60 Jahren eingeflossen. Das entspricht rund der Hälfte aller stationär versorgten Pflegebedürftigen in Deutschland. Im Online-Portal „Qualitätsatlas Pflege“ des WIdO sind die Ergebnisse für die einzelnen Bundesländer und für die rund 400 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland im regionalen Vergleich dargestellt. Die Ergebnisse zu den zehn betrachteten Themen können auch als Zeitreihen für die Datenjahre 2017 bis 2021 betrachtet werden. „Hier zeigen sich durchaus positive Entwicklungen – zum Beispiel bei den vielfach unnötigen Krankenhaus-Aufenthalten von Pflegeheim-Bewohnerinnen und -Bewohnern am Lebensende“, berichtet Pflege-Expertin Antje Schwinger. So sank der Anteil der Menschen, die in ihren letzten 30 Lebenstagen einen Krankenhausaufenthalt hatten, von bundesweit 47 Prozent im Jahr 2017 auf 42 Prozent im Jahr 2021. „Allerdings bleibt abzuwarten, ob dies nur ein vorübergehender Trend infolge der gesunkenen Fallzahlen in der Pandemie ist“, erklärt Schwinger. Auch bei diesem Thema waren große regionale Unterschiede zu verzeichnen, die im Zeitverlauf bestehen blieben. Spitzenreiter bei den Krankenhauseinweisungen am Lebensende ist das Saarland mit einem Anteil von 49,5 Prozent im Jahr 2021 (2017: 55 Prozent), am anderen Ende der Skala liegt Sachsen mit 36 Prozent (2017: 43 Prozent).
Qualitätsatlas Pflege beleuchtet insgesamt zehn Indikatoren
Neben der Dauermedikation mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln, den Krankenhauseinweisungen von Demenzkranken aufgrund von Flüssigkeitsmangel und den vermeidbaren Krankenhausaufenthalten am Lebensende werden im Qualitätsatlas sieben weitere Themen betrachtet. Dies sind die fehlende augenärztliche Vorsorge bei Diabetes, das Auftreten von Dekubitus, die Dauerverordnung von Antipsychotika bei Demenz, die gleichzeitige Verordnung von neun oder mehr Wirkstoffen, der Einsatz von für ältere Menschen ungeeigneter Medikation, die Häufigkeit besonders kurzer Krankenhausaufenthalte von bis zu drei Tagen sowie vermeidbare Krankenhausaufenthalte aufgrund von Stürzen.
AOK-Bundesverband: Routinedaten für bessere Versorgung nutzen
Aus Sicht des AOK-Bundesverbandes können Routinedaten-Auswertungen die bisherigen Aktivitäten zur Verbesserung der Versorgung von pflegebedürftigen Menschen sinnvoll ergänzen. Auch für die Weiterentwicklung des internen Qualitätsmanagements der Pflegeeinrichtungen und der gesetzlichen Qualitätssicherung in der Pflege sollten diese Auswertungen genutzt werden. „Mithilfe dieser ohnehin vorliegenden Daten lassen sich wichtige Aspekte der pflegerischen und gesundheitlichen Versorgung in den Pflegeheimen abbilden – und zwar ohne zusätzlichen Erfassungsaufwand für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Heimen“, betont Dr. Sabine Richard, Geschäftsführerin Versorgung im AOK-Bundesverband. Die Routinedaten-Auswertungen hätten den Vorteil, dass sich damit auch Schnittstellen zur Gesundheitsversorgung beleuchten lassen, zu denen es bisher keine systematischen und regelmäßigen Auswertungen gibt. „Eine gute Zusammenarbeit zwischen den Pflegeeinrichtungen, den behandelnden Ärztinnen und Ärzten und Kliniken ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für eine gute Versorgung“. Es sei „absolut sinnvoll“, das Potenzial dieser Daten zu nutzen, um die Versorgungsangebote vor Ort weiterzuentwickeln, so Richard. Bisher scheitere dies oft an den Sektorengrenzen in der Versorgung. Die AOK setze sich dafür ein, die Handlungsmöglichkeiten der regionalen Akteure für regionale Versorgungsangebote zu verbessern.
Atlas soll Verbesserung regionaler Strukturen und Rahmenbedingungen anstoßen
Der Qualitätsatlas Pflege des WIdO richtet sich daher im ersten Schritt vor allem an die Akteure vor Ort. Er zeigt konkrete Ansatzpunkte für die Verbesserung der Versorgung auf. „Indem wir die großen regionalen Unterschiede sichtbar machen, wollen wir die Aufmerksamkeit für die Schnittstellen-Probleme zwischen Pflege und Gesundheitsversorgung erhöhen und Verbesserungen der regionalen Strukturen und Rahmenbedingungen anstoßen“, erklärt Antje Schwinger. Eine Ausweitung der Datenauswertungen auf die Arbeit von ambulanten Pflegediensten sei möglich und müsse ebenfalls angegangen werden.
Der Qualitätsatlas Pflege erscheint gemeinsam mit dem Pflege-Report 2023, der sich in 14 Fachbeiträgen dem Thema „Versorgungsqualität von Langzeitgepflegten“ widmet. Neben den Chancen einer routinedatenbasierten Qualitätssicherung beleuchtet der Report unter anderem die bestehenden Instrumente und Maßnahmen der Qualitätssicherung und -entwicklung. Außerdem geht es in dem Sammelband um die Perspektiven eines Public Reportings, um Angehörigen-Befragungen und um das Thema Impfsurveillance.
Zum Qualitätsatlas Pflege: www.qualitaetsatlas-pflege.de
Zum Pflege-Report: https://www.wido.de/publikationen-produkte/buchreihen/pflege-report/2023/
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