„Wir sehen eine Stabilisierung der finanziellen und wirtschaftlichen Sorgen und Belastungen auf hohem Niveau. Diese sind bislang nicht auf das Niveau von vor der Ukraine-Krise zurückgegangen. Der Anstieg in Folge des Krieges war also nicht nur eine kurzfristige Reaktion, sondern spiegelt eine reale und dauerhafte Belastung – vor allem in den unteren und teilweise mittleren Einkommensgruppen – wider“, ordnet Prof. Dr. Bettina Kohlrausch die neuen Befunde ein. Die wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung wertet die Befragung zusammen mit den WSI-Forschern Dr. Andreas Hövermann und Dr. Helge Emmler aus.
„Insofern ist es gut, dass das Bürgergeld nun entsprechend der Inflation erhöht wird. Und es ist sicherlich ein Fehler, dass es beim Mindestlohn Anfang kommenden Jahres nur eine kleine Erhöhung geben wird“, sagt die WSI-Direktorin.
Die Daten sprächen auch dafür, „dass sich die finanziellen Belastungen auch in Vertrauensverlusten niederschlagen“, so Kohlrausch: Befragte, die sich etwa große Sorgen um die allgemeine oder individuelle wirtschaftliche Lage oder um ihren Arbeitsplatz machen, äußern weit überdurchschnittlich häufig, sie hätten geringes oder kein Vertrauen in die Bundesregierung (siehe auch Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Es sei zwar verkürzt, daraus monokausale Erklärungen zu konstruieren, „denn die Entfremdung zwischen einem Teil der Bürgerinnen und Bürger und staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen hat sicherlich nicht erst mit der Energiekrise und den Preissprüngen begonnen. Dennoch haben die daraus resultierenden Belastungen das Potenzial, diese Entfremdung weiter zu verstärken und zu verfestigen“, warnt die Wissenschaftlerin.
Die Befragungsergebnisse im Einzelnen:
Sorgen: Aktuell machen sich 48 Prozent der Befragten große Sorgen um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Das ist ein Anstieg um vier Prozentpunkte gegenüber dem November 2022. Besonders frappierend fällt die Sorge um den sozialen Zusammenhalt in der längerfristigen Perspektive aus: Im April 2020, auf dem ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie, lag der Anteil der stark Besorgten etwa halb so hoch, bei 23 Prozent. „Das unterstreicht, dass ein erheblicher Teil der Menschen die gut drei Jahre seit Beginn der Pandemie als Dauerkrise wahrnimmt, die sie und die Gesellschaft auslaugen“, sagt Bettina Kohlrausch. „Es gibt zwischenzeitlich mal eine leichte Entspannung, aber bislang kein Ende.“
Dazu passt, dass sich die Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung, die Entwicklung der sozialen Ungleichheit und die eigene finanzielle Lage in der Befragung auf hohem Niveau zu stabilisieren scheinen: Knapp ein Drittel der Befragten machte sich im Juli große Sorgen darüber, dass sie ihren Lebensstandard nicht dauerhaft werden halten können, knapp 40 Prozent sind sehr besorgt um ihre Altersabsicherung (siehe auch Abbildung 2 in der pdf-Version). Der Effekt der hohen Inflation ist zuletzt zwar leicht rückläufig, aber immer noch sehr weit verbreitet: 51 Prozent der Befragten machen sich deswegen große Sorgen, nach 56 Prozent im November. Auch die Quote, der um die eigene wirtschaftliche Situation stark Besorgten, war zuletzt etwas niedriger als im November (24 vs. 28 Prozent), ist aber immer noch deutlich höher als vor Ausbruch des Ukraine-Krieges.
Deutliche Unterschiede zeigen sich bei einer verfeinerten Betrachtung nach Einkommen: Befragte mit niedrigen Einkommen berichten nicht nur am häufigsten von Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation, in dieser Gruppe stiegen die meisten Sorgen mit finanziellem Bezug (steigende Preise, allgemeine wirtschaftliche Situation) auch zuletzt weiter an – gegen den allgemeinen Trend.
Belastungen: Ähnlich sieht das Muster für die wahrgenommene finanzielle Belastung aus. Schaut man auf alle Befragten, ist der Anteil derer, die äußerst und stark belastet sind, gegenüber dem Rekordhoch im November 2022 leicht zurückgegangen, liegt aber immer noch etwas über dem Wert zu Pandemiebeginn (Abbildung 3). Gegen diesen Trend sind die finanziellen Belastungen insbesondere bei den Einkommensärmsten zuletzt weiter angestiegen, während sie bei den Befragten mit höheren Einkommen zurückgehen und in der Mitte auf erhöhtem Niveau eher stagnieren (Abbildung 4).
Andere abgefragte Belastungen haben sich zuletzt auf mittlerem bis niedrigerem Niveau stabilisiert (Abbildung 3). Das gilt etwa für Belastungen durch die familiäre Situation oder die Arbeitssituation. Auffällig ist, dass die Belastungen der Frauen weiterhin teilweise deutlich über denen der Männer liegen. Trotz teilweise erheblicher Belastungsrückgänge geht dies, wie auch in den Erhebungswellen zuvor, insbesondere auf die erhöhten Belastungswerte von Müttern zurück.
Vertrauen in Institutionen: Für viele staatliche oder gesellschaftliche Institutionen wie Polizei, Justiz, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände oder öffentlich-rechtliche Medien zeigen sich zwischen November 2022 und Juli 2023 eher unauffällige, stabilisierende Entwicklungen (Abbildung 5 in der pdf-Version). Eine Ausnahme stellt die Bundesregierung dar, die weiter an Vertrauen einbüßt. Gegenüber November hat sich im Juli der bereits geringe Anteil, der der Bundesregierung explizit großes oder sehr großes Vertrauen entgegenbringt, noch einmal geringfügig reduziert – von 15 auf 14 Prozent. Gleichzeitig stieg der Anteil derjenigen, die wenig oder überhaupt kein Vertrauen in die Bundesregierung äußern, auf mittlerweile mehr als die Hälfte der Befragten an.
Das Vertrauen in die Bundesregierung korreliert dabei mit der Einkommenssituation und den wahrgenommenen Belastungen: Während 62 Prozent der Befragten mit einem niedrigen Nettoäquivalenzeinkommen von unter 1.500 Euro im Monat angaben, wenig oder überhaupt kein Vertrauen in die Bundesregierung zu haben, waren es 44 Prozent bei Personen mit einem höheren gewichteten Nettoeinkommen von über 3.500 Euro. Besonders gering ist das Vertrauen in die Bundesregierung unter Erwerbspersonen mit niedrigem Einkommen im Osten Deutschlands. Von ihnen äußerten im Juli 70 Prozent wenig oder überhaupt kein Vertrauen in die Bundesregierung – im Westen lag der Wert bei 61 Prozent.
Generell zeigen sich deutliche Unterschiede im Institutionenvertrauen zwischen Befragten in Ost- und Westdeutschland (Abbildung 6): Ob in Gerichte, Polizei, Bundeswehr, öffentlich-rechtliche Medien, Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände – der Anteil der Befragten in Ostdeutschland, der großes oder sehr großes Vertrauen äußert, ist kleiner als in Westdeutschland. Besonders deutlich wird dieser Vertrauensunterschied auch bezogen auf die Bundesregierung: während im Juli in Westdeutschland 14 Prozent der Bundesregierung hohes oder sehr hohes Vertrauen entgegenbrachten, waren es in Ostdeutschland nur 8 Prozent. Lediglich der „Partei, die ich wähle“ bringen Befragte im Osten ähnlich großes oder sehr großes Vertrauen entgegen wie Befragte im Westen (43 vs. 42 Prozent).
Auch Wählerinnen und Wähler der AfD äußern ein im Vergleich unterdurchschnittliches Vertrauen in staatliche und gesellschaftliche Institutionen. Das gilt für Polizei, Gerichte, Bundeswehr, öffentlich-rechtliche Medien, Arbeitgeberverbände oder Gewerkschaften. Besonders gering verbreitet ist das Vertrauen unter AfD-Wählenden in die Bundesregierung – gerade einmal 2,8 Prozent gaben an, sie hätten großes oder sehr großes Vertrauen. Lediglich der „Partei, die ich wähle“ bringen AfD-Wähler*innen etwas häufiger großes oder sehr großes Vertrauen entgegen als der Durchschnitt der Wähler*innen. Unter Wähler*innen der Grünen ist das Vertrauen in die gewählte Partei noch deutlich größer, unter SPD-Wählenden auf ähnlichem Niveau wie bei der AfD.
Informationen zur Methode
Für die neue Welle der Erwerbspersonenbefragung wurden im Juli 2023 insgesamt 5029 Erwerbstätige und Arbeitsuchende von Kantar Deutschland online zu ihrer Lebenssituation befragt. Der überwiegende Teil dieser Personen wurde bereits im April, Juni und November 2020, im Januar, Juli und Oktober 2021 sowie im Januar, April und November 2022 kontaktiert, um an der Panelstudie teilzunehmen. Die Befragten bilden die Erwerbspersonen in Deutschland im Hinblick auf die Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung und Bundesland repräsentativ ab. Durch die Panelstruktur lassen sich Veränderungen im Zeitverlauf herausarbeiten.
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