Museumssammlungen enthalten nicht nur eine bemerkenswerte Menge an Objekten, aber auch eine Vielfalt an (unentdeckten) Geschichten. Je nach Auswahl der Werke entfalten sich andere Erzählungen und eröffnen sich neue Perspektiven – sowohl auf das Jetzt wie auch auf die Geschichte. Die Geschichte der Kunst ist ausserdem geprägt von vielen Gesprächen, Unterhaltungen, Streitereien und Diskussionen, Freundschaften und Allianzen zwischen Kunstschaffenden – posthum oder zu Lebzeiten.
Das Kunsthaus Zürich verfügt über eine Sammlung von Kunst aus dem Mittelalter bis heute. Bisher erfolgte die Auswahl und Präsentation der Werke meist von den festangestellten Kunsthistorikerinnen und Kuratoren. Mit der neuen Reihe «ReCollect!» lädt das Kunsthaus nun Künstlerinnen und Künstler ein, um in einer Reihe von Interventionsräumen alternative Sichtweisen auf die Sammlung zu zeigen. Dieser multiperspektivische Zugang zur Sammlung eröffnet eine frische, inspirierende Mehrstimmigkeit, die unserer heutigen Zeit entspricht. Der Titel «ReCollect!» spielt mit der Idee des Re-Inszenierens der Sammlung, aber auch mit dem englischen Wort «recollect», zu Deutsch «erinnern». Es geht also auch um das (wieder) entdecken von Geschichte(n), die noch nicht erzählt oder im Museum abgebildet sind und um das Verbinden von Vergangenheit und Zukunft.
NEUE INTERPRETATIONEN UND PERSPEKTIVEN
«Kunstschaffende produzieren nicht nur Kunst, sie sind auch wichtige Interpretatorinnen von Kunstwerken. Ihr ganz eigener Blick auf die Kunst und die Geschichte der Kunst eröffnet neue, teils überraschende Perspektiven, die die Sehweise der Museumskuratorinnen und -kuratoren ergänzen und das Publikum die Sammlung anders erfahren lassen», so Kuratorin Mirjam Varadinis.
Das Kunsthaus knüpft damit an eine Tradition an, in der einige europäische Museen – allen voran die National Gallery in London mit ihrer Reihe «The artist’s eye» in den 1970er-Jahren – die Expertise von Kunstschaffenden, ihre Sichtweisen und ihr Denken über die Kunstgeschichte in den Vordergrund gestellt haben. Diese Reihe der von Künstlerinnen und Künstlern kuratierten Sammlungs¬präsentationen verbindet sich aber auch mit der eigenen Geschichte des Kunsthauses. Im Gegensatz zu anderen Museen wurde das Kunsthaus Zürich von Künstlern und befreundeten Sammlern gegründet, und diese direkte Verbindung hat die Institution und ihre Sammlung stark geprägt.
Die Präsentationen im Rahmen von «ReCollect!» sind jeweils für Laufzeiten von mindestens einem Jahr vorgesehen. Die Reihe wird von den Kunstschaffenden Matias Faldbakken/Ida Ekblad, Daniela Ortiz und vom Kunstkollektiv Hulda Zwingli eröffnet.
MATIAS FALDBAKKEN/IDA EKBLAD
Auf den ersten Blick erscheinen die Arbeiten von Matias Faldbakken (*1973), Schriftsteller und Künstler, und Ida Ekblad (*1980) sehr unterschiedlich. Doch die beiden eint das Interesse an objektbasierter Kunst – sowohl an ihren Möglichkeiten als auch an ihren Problemen. Beide arbeiten gerne mit kunsthistorischem Material, teils akklamatorisch-bejahend, teils bewusst schnell und zufällig. Dieser Ansatz der Hommage und gleichzeitigen Vernachlässigung ist eine produktive Kraft in der künstlerischen Praxis von beiden. Er eröffnet Raum für Kritik, Humor und Experimente. Ekblad dringt mit ihrem energischen und furchtlosen Schaffen in die traditionell männlich besetzten Gebiete der grossformatigen Malerei und der Bronzeskulptur ein. Faldbakken schafft eher zurückhaltende Arbeiten – die er mit «fantasievollen Dissens» umschreibt. Für «ReCollect!» arbeiten die beiden zum ersten Mal zusammen und schaffen eine gemeinsame Installation, in der sie ausgewählte Werke aus der Kunsthaus-Sammlung durch ihre eigene künstlerische Praxis interpretieren. Ihre Gesten eröffnen neue Sichtweisen auf die Art und Weise wie die Bestände gezeigt werden, und rücken das Werk von Künstlerinnen in den Fokus.
DANIELA ORTIZ
Daniela Ortiz (*1985, Peru) kreiert visuelle Erzählungen, die hegemoniale Machtstrukturen und das kapitalistische System hinterfragen sowie Konzepte von Nationalität, sozialer Klasse und Kategorisierungen aufgrund von Hautfarbe und Herkunft kritisch untersuchen. Ortiz, die 2023 ihre erste Theaterarbeit mit dem Neumarkt-Ensemble Zürich realisiert hat, engagiert sich mit ihrem Werk gegen Rassismus und thematisiert die Folgen des Kolonialismus. Um sich formal von einer eurozentrischen Ästhetik der Konzeptkunst abzusetzen, verwendet sie oft handwerkliche Techniken wie Keramik, Collage oder Stickerei. Auch das Format des Kinderbuchs oder Puppentheaters werden von ihr eingesetzt, um die grossen Geschichten der Menschheit aus der Perspektive des Globalen Südens neu zu erzählen. Für die Kunsthaus-Sammlung entwickelt Daniela Ortiz eine Arbeit, die im Kuppelsaal im 1. Stock des Moser-Baus – einem der architektonisch prominentesten Räume im Museum – zu sehen sein wird.
HULDA ZWINGLI
Hulda Zwingli ist ein anonymes Künstlerinnenkollektiv aus Zürich, das die ungleichen Geschlechterverhältnisse in der Kunstwelt sowie im öffentlichen Raum unter die Lupe nimmt und anprangert. Das Kollektiv wurde am 14. Juni 2019, dem Frauenstreiktag gegründet und tritt seither mit regelmässigen Instagram-Posts zum Thema sowie Aktionen im öffentlichen Raum auf. Der Name setzt sich aus dem Vornamen einer historischen Schweizer Kunstsammlerin, Hulda Zumsteg (Kronenhalle), sowie dem Namen des Zürcher Reformators Zwingli zusammen. Seit der Gründung kritisiert Hulda Zwingli das Kunsthaus Zürich dafür, dass Künstlerinnen in der Sammlung wie auch im Programm nicht adäquat vertreten sind. Nun öffnet das Kunsthaus sein Depot und lädt Hulda Zwingli ein, ihren Blick auf die Sammlung zu zeigen und so hoffentlich viele Künstlerinnen neu zu entdecken.
WEITERE IMPULSE ZEITGENÖSSISCHER KUNST IN DER SAMMLUNG
Gleichzeitig mit der neuen Serie «ReCollect!» erhalten weitere Werke von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern ihren Auftritt in der Kunsthaus-Sammlung.
Im Foyer Haefner empfangen die Besucherinnen und Besucher zwei Werke von Małgorzata Mirga-Tas (*1978), einer polnischen Künstlerin aus der Rom*nja-Community. Die zwei grossformatigen Textilarbeiten waren Teil ihrer raumfüllenden Installation im polnischen Pavillon letztes Jahr an der Venedig-Biennale und wurden für die Kunsthaus-Sammlung angekauft. Die Künstlerin inspirierte sich für die Arbeiten an den berühmten Monatsbildern im Renaissance-Palast Palazzo Schifanoia in Ferrara, ersetzte jedoch die Darstellungen von Adligen durch Szenen aus der Geschichte und dem Alltag der Rom*nja. Mit der Platzierung des Werkes in der Eingangshalle des Chipperfield-Baus erhält diese bisher im Museum nicht präsente Geschichte eine Plattform und die öffentlich zugängliche Museumshalle verwandelt sich in einen Museumsraum.
Ebenfalls neu ist die Präsenz des Kollektivs Britto Arts Trust mit der Installation «rasad» (2022), die an der letztjährigen documenta 15 in Kassel zu sehen war und nun als Dauerleihgabe ins Kunsthaus kommt. Britto Arts Trust ist ein gemeinnütziges Künstler/innen-Kollektiv aus Dhaka, das in seiner Arbeit den sozio-politischen Umbruch in Bangladesch untersucht und verlorene Geschichten, Kulturen und Gemeinschaften erforscht. In «rasad» hat Britto einen kleinstädtischen Basar mit Lebensmitteln aus Häkel-, Keramik- und Metallobjekten nachgebildet. Die ausgestellten Produkte wurden in Workshops in Dhaka in Gemeinschaftsarbeit hergestellt und treten nun in einen Dialog mit Werken der Kunsthaus-Pop-Art-Sammlung, wie z. B. Warhols «Big Torn Campbell’s Soup Can (Vegetable Beef)».
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