Astrid Ley, stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen, sagte in ihrer Ansprache: „Bei der Verhaftung von rund 9.500 Männern im Rahmen der ‚Aktion Arbeitsscheu Reich‘ im Juni 1938 ging es der SS nicht zuletzt um billige Arbeitskräfte für ihre neuen Wirtschaftsunternehmen wie zum Beispiel das Oranienburger Klinkerwerk. Allein in das KZ Sachsenhausen wurden 6.224 der Männer gebracht, wo sie mit der neugeschaffenen Häftlingskategorie der ‚Asozialen‘ registriert wurden. In einem für 146 Personen errichteten Barackenflügel mussten sich jetzt mehr als 400 Häftlinge zusammendrängen, nachdem die Bettgestelle entfernt und durch Strohschüttungen auf dem Boden ersetzt worden waren. Die wenigen Toiletten und Waschbecken ermöglichten noch nicht einmal ein Mindestmaß an körperlicher Hygiene. Die äußerst schlechten Bedingungen führten zu einer relativ hohen Sterblichkeit in dieser Gruppe. Die Überlebenden wurden in der deutschen Erinnerungskultur in Ost und West jahrzehntelang weniger vergessen als vielmehr systematisch ausgeblendet.“
Erhard Grundl, Bundestagsabgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, sagte: „Es geht darum, den ‚verleugneten‘ Opfern ihre Geschichte zurückzugeben und sie aufzunehmen in die kollektive Erinnerung und die Erinnerung der vielen betroffenen Familien. Wie eine Gesellschaft mit den verletzlichsten ihrer Mitglieder umgeht – mit Menschen in Krisensituationen, in Armut und Krankheit –, dieser Umgang zeigt ihre innere Verfasstheit. Nie wieder dürfen Würde und Schutz des menschlichen Lebens in unserem Land zur Disposition stehen. Die Opfer gehören in unsere Mitte. Wo sie nicht sein dürfen, wer sie sind, wo ihnen nicht solidarisch beigestanden wird, da steht es schlecht um die Ethik einer Gesellschaft.“
Frank Nonnenmacher, Neffe eines Sachsenhausen-Überlebenden und Erster Vorsitzender des „Verbandes für die Erinnerung an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“, erklärte: „Hier heute zu stehen ist auch für mich ganz persönlich ein bewegender Moment. Mein Onkel Ernst Nonnenmacher war hier bis zur Befreiung als Häftling eingekerkert. Er musste erst den schwarzen Winkel der ‚Asozialen‘ tragen und wurde dann mit dem grünen Winkel als ‚Berufsverbrecher‘ markiert. Eine Anerkennung als Verfolgter des Nationalsozialismus wurde ihm verweigert, eine Entschädigung hat er nie bekommen. Das hat ihn sehr gedemütigt. Den Bundestagsbeschluss von 2020 hat er nicht mehr erlebt. Dieser Beschluss, der nach über 70 Jahren die staatliche Diskriminierung der KZ-Häftlinge mit dem schwarzen und dem grünen Winkel beendet hat, war ein wichtiger Meilenstein für die deutsche Erinnerungskultur. Gleichzeitig ist aber deutlich zu kritisieren, dass die ebenfalls vom Bundestag geforderten Gelder zur Finanzierung der jahrzehntelang unterbliebenen Forschungen über die Schicksale dieser NS-Opfer oder zur Rolle der beteiligten Verfolgungsinstanzen bis heute nicht geflossen sind.“
Im Juni 1938 verschleppten Kriminalpolizisten rund 9.500 Menschen in Konzentrationslager, die von den Nationalsozialisten als „asozial“ stigmatisiert wurden. Die reichsweite Verhaftungsaktion richtete sich gegen eine sehr heterogene Gruppe von Menschen. Unter ihnen befanden sich Personen, die wegen „Bettelei“ und „Landstreicherei“ vorbestraft waren, Wohnungslose und Alkoholkranke, Unterhaltsverweigerer sowie weitere Menschen, die aufgrund ihres Lebenswandels nicht der nationalsozialistischen Volksgemeinschafts-Ideologie entsprachen. Auch streikende Arbeiter, Juden und Sinti und Roma waren von den Verhaftungen betroffen.
Mehr als 6.200 Männer wurden während der Aktion in das KZ Sachsenhausen gebracht. Doch auch nach deren Ende wurden die Verhaftungen fortgesetzt. Insgesamt lassen sich für das KZ Sachsenhausen mehr als 11.100 Häftlinge mit dem schwarzen Winkel nachweisen. Viele von ihnen überlebten die Haft nicht. Sie starben durch Hunger, Krankheiten oder die Gewalt der SS.
In der Erinnerungskultur ist die Opfergruppe der als „asozial“ Stigmatisierten bis heute marginalisiert. Erst 2020 erkannte der Bundestag sie als NS-Verfolgte an. Nur wenige der Betroffenen haben nach 1945 öffentlich über ihre Erfahrungen in den Konzentrationslagern gesprochen. In der Gedenkstätte Sachsenhausen erinnert seit 2017 ein von Nachkommen errichtetes Gedenkzeichen an Clemens Paul Feige, der als „Asozialer“ im KZ Sachsenhausen umkam.
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