Besinnung durch Verzweiflung ist kein kluger Ratgeber

Rund 220 Gäste in der TauberPhilharmonie Weikersheim und knapp 200 Personen via Livestream nahmen am Donnerstag, 27. April 2023 an der sechsten Veranstaltung der Reihe „enter the future“ der Wittenstein Stiftung teil. Der Referent Prof. Dr. Peter Sloterdijk zeigte auf, wie groß und vor allem alt das Bedürfnis ist, sich in Gesellschaften zu orientieren und trat mit dem Publikum – ob digital oder vor Ort – in einen intensiven Austausch.

Zu begreifen, in welchem Zustand sich unsere Gesellschaft insgesamt befindet und welche Instanzen in der heutigen Zeit orientierungstaugliche Maßstäbe bieten können, war das Ziel der sechsten enter the future-Veranstaltung der Wittenstein Stiftung. Dieser provokant formulierten Mammutaufgabe widmete sich kein Geringerer als der bedeutende deutsche Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor Prof. Dr. Peter Sloterdijk, der über das Aufzeigen von Titanismen, apokalyptischem Druck und Belastungsverschiebungen am Ende der Veranstaltung klar machte, dass das lebende System Mensch völlig überfordert damit sei, selbst Orientierung zu bieten und oft Gefahr laufe, vermeintliche Orientierung dort anzuwenden, wo es nicht passe.

Perspektivverengung statt kalendarischer Strukturen

So alt wie die menschliche Schriftkultur sei das Bedürfnis, sich als Mensch in Gesellschaften orientieren zu können – so Sloterdijk zu Beginn seines Impulsvortrages in der Weikersheimer TauberPhilharmonie. Mit Blick auf den jüdischen, christlichen und muslimischen Kalender seien die Zeitrahmen jedoch zu großmaschig und weit geschnitten, um in unserem Heute als Individuum ein präzises Lagegefühl durch kalendarische Strukturen erlangen zu können. So empfiehlt Sloterdijk, das Betrachtungsfenster enger bzw. auf das 19. Jahrhundert zu ziehen, um die Situierung der jetzigen Gesellschaft besser zu verstehen. Seiner Ansicht nach entwickelte sich das Zeitalter der Kohle, die „durch die Seitentür in das Weltwirtschaftsgeschehen eingetreten ist, zu einer titantischen Größe von einem Umfang, die die menschliche Fassungskraft zum damaligen Zeitpunkt völlig sprengte“. Der erste Ölfund am 10. Januar 1901 in Houston/Texas, dessen Fontäne gleichsam als Symbolbild für das 20. Jahrhundert und als entfesselnde weltverändernde Quelle für Reichtum und Energie gelte, sei laut dem Philosophen eine weitere Befeuerung der ressourcenignorierenden Mobilmachung menschlicher Bedürfnisse gewesen. „Mit dieser Einengung des Zeitfensters befinden wir uns heute in einer Szene zwischen dem Auslaufen der Arbeiterbewegung, der neuen grünen Welle und der wachsenden Einsicht, dass unsere hochgradig energiedefinierte Lebensform einen erneuten Titanenkampf darstellt“, erläuterte Sloterdijk.

Interpretationen verändern sich im Zeitablauf

Als Beispiel für den Lernprozess der Moderne führte der Referent zwei welthistorische Ereignisse an: den Untergang der Titanic 1912 sowie die Terroranschläge auf das World Trade Center 2001. Damals als Katastrophen angesehen, blicke man heute mit einer anderen Interpretation auf die Lektion, dass es durch die menschliche Könnensmacht überhaupt erst möglich gewesen ist, solch ein Schiff bzw. Gebäude zu bauen. Beiden folgten jeweils noch größere Bauwerke unter dem Namen Queen Mary und World Trade Center One als „Provokation nach der Katastrophe“, so Sloterdijk, der die katastrophische Orientierung zumindest als eine Bemühung um Orientierung in einer multipolaren Welt bewertet. Seiner Konklusion nach wurde Bescheidenheit in unserem Kulturkreis dabei von Grund auf verlernt. Bei der Belastungsverschiebung, d.h. dem Externalisieren eigener Aufgaben hin Richtung Maschinen und künstlicher Intelligenz, handele es sich laut ihm letztendlich „auch nur um moderne Sklaverei, aber zumindest haben wir gegenüber Maschinen keine Schuldgefühle“.

Die Welt als Raumschiff ohne Handbuch

Gehe man von einer höheren Macht oder Intelligenz aus, dann befände sich die heutige Gesellschaft in der Phase der Entdeckung, dass die Welt ein Raumschiff ohne mitgeliefertes Handbuch sei. Die Bewohner des Planeten Erde sind – der Aufassung Sloterdijks nach – in diesem Falle angehalten, im Rahmen eines autodidaktischen Experiments auf Leben und Tod selbst herauszufinden, wie dieses Raumschff zu lenken ist. Eine verbindlichere Art an Orientierungsempfehlung könne man der heutigen Menschheit laut ihm nicht übermitteln, wohingegen apokalyptischer Druck als Veränderungsgrund für das menschliche Dasein und Wirken weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft funktioniert hätte. „Eine Maximalverwirrung der Gesellschaft ist über alle Zeitfenster hinweg ein ziemlich normaler Zustand, man darf nur keine Affäre daraus machen und sich vermeintlich falschen Orientierungsgebern an falschen Stellen anschließen“, beendete Peter Sloterdijk seinen ca. 45-minütigen Impulsvortrag.

Wie komplex die Wirklichkeit und wie schwierig es ist, sich in dieser Realität zu bewegen und zurechtzufinden, betonte Gastgeber Dr. Manfred Wittenstein, Stifter und Kuratoriumsvorsitzender der Wittenstein Stiftung, abschließend ebenfalls: „Einfache Antworten auf komplexe Herausforderungen sind in aller Regel keine tauglichen Wegweiser in die Zukunft – oft aber beliebte Angebote. Diese helfen uns jedoch nicht, sie führen uns allenfalls auf Irrwege, auf denen wir uns viel zu lange sicher fühlen.“

Nächste enter the future-Veranstaltung

Der Termin für die nächste enter the future-Veranstaltung steht bereits: am 29. November 2023 wird der „New Space“ in der Weikersheimer TauberPhilharmonie im Mittelpunkt stehen. Anmeldungen sind ab Anfang Oktober über die Website der Wittenstein Stiftung möglich.

Die Aufzeichnungen aller Veranstaltungen inklusive der Diskussionsrunden mit dem Publikum finden Sie unter www.wittensteinstiftung. de/enter-the-future.

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