Ergotherapeut:innen arbeiten betätigungsorientiert und klienten-, also patientenzentriert. Das bedeutet, sie analysieren nach ihrem Anamnesegespräch, das Teil der ergotherapeutischen Diagnose ist, den Alltag ihrer Patient:innen mit allen Betätigungen und Aktivitäten. Daraus entwickeln sie gemeinsam mit ihrem Gegenüber ein jeweils individuelles Therapiekonzept, welches sie im Laufe der Behandlung überprüfen und gegebenenfalls anpassen. Bislang sieht der Gesetzgeber vor, dass Ärzt:innen eine Diagnose stellen, eine Diagnosegruppe wählen und dann Ergotherapie mit Vorgaben wie Art des Heilmittels, also beispielsweise Hirnleistungstraining oder motorisch-funktionell oder psychisch-funktionell, sowie die Anzahl und die Frequenz der ergotherapeutischen Behandlungstermine verordnen. Gibt es Abweichungen, besteht bislang nur die Möglichkeit, sich mit den Verordner:innen auseinanderzusetzen. Zu Abweichungen kann es kommen, wenn dem beziehungsweise der Ergotherapeut:in aufgrund der ausführlichen Diagnostik und beim inhaltlichen Prüfen der ärztlichen Indikation weitere Dinge auffallen oder von den Patient:innen ausgesprochen werden. Das kann ein anderes Heilmittel erfordern – etwa sensomotorisch-perzeptiv anstelle von motorisch-funktionell – oder sogar zu einer anderen Diagnosegruppe führen. Das Absprechen mit Arzt oder Ärztin funktioniert in aller Regel, kostet jedoch beide Seiten mehr Zeit und erfordert eine Korrektur der Verordnung. Dennoch sind Ergotherapeut:innen nach einem eventuell nötigen Richtungswechsel auch danach weiter die Hände gebunden: Der Gesetzgeber fordert konkrete Therapieanweisungen von Ärzt:innen.
Ergotherapeut:innen wünschen Blankoverordnung statt Verordnungskorsett
„Es ist zum Wohle von Patient:innen, daher erfolgsorientiert und darüber hinaus deutlich wirtschaftlicher, sie so zu behandeln, dass sie in ihrer jeweiligen Situation bestmöglich versorgt sind“, betont die Ergotherapeutin Bettina Simon, weshalb der DVE als maßgeblicher Verband der Ergotherapeut:innen in Deutschland die Einführung der Blankoverordnung schon lange fordert und beharrlich verfolgt. Welche Gründe sprechen gegen die Verordnung einer ergotherapeutischen Intervention, die statisch und für einen bestimmten Zeitraum verbindlich ist? Eine ergotherapeutische Behandlung ist immer individuell, ein Prozess, der sich an der Behandlungsplanung orientiert, sich aber ebenso dem jeweiligen Fortschritt und anderen, akuten Bedürfnissen der Patient:innen anpasst. Die Ergotherapeutin erklärt: „Je nach Erkrankung und Situation eines Erkrankten kann beispielsweise die ersten zwei Wochen eine motorisch-funktionelle Behandlung nötig und sinnvoll sein. Stehen danach jedoch neuropsychologische Aspekte im Vordergrund – etwa, weil kognitive Defizite auftreten oder die Patient:innen mit ihrer Krankheitsverarbeitung hinterherhinken – könnten Ergotherapeut:innen mit einer Blankoverordnung flexibel reagieren“. Gleiches gilt für die bislang ebenfalls von Ärzt:innen vorgegebene Therapiefrequenz. „Jeder Mensch hat seinen ganz eigenen Krankheits- und Gesundungsverlauf, was in einem derart starren Verordnungskorsett nicht berücksichtigt ist“, kritisiert Simon zu Recht das wenig patientenfreundliche und unwirtschaftliche Verfahren. Es ist ein ergotherapeutisches Anliegen, Patient:innen schnellst- und bestmöglich zur Betätigung im Alltag zu befähigen und dabei deren Gesamtsituation zu berücksichtigen. Zeigt sich etwa, dass gerade „ein Fenster offen ist“, sprich, die körperlichen oder psychischen Voraussetzungen der behandelten Person optimal sind, könnte das Erhöhen der Behandlungsfrequenz die Genesung weiter fördern. Das ist oft zu Beginn einer akuten Erkrankung oder nach einer Operation der Fall. Sofern es die Entwicklung zulässt – und das überprüfen Ergotherapeut:innen regelmäßig – könnte der Abstand der Behandlungstermine im Verlauf der Therapie immer größer werden. Auch die Mitarbeit der Betroffenen hat einen Einfluss: machen die Patient:innen ihre Eigenübungen zuhause kontinuierlich, zuverlässig und richtig oder sind sie weniger kooperativ und eigenmotiviert? Auch die jeweilige Verfassung spielt eine Rolle; kurzum: es sind viele Aspekte, die sich auf den individuellen Entwicklungsprozess Erkrankter auswirken. Eine beispielsweise für 12 Wochen festgelegte ärztliche Verordnung kann einer optimalen und flexiblen und vor allem patientengerechten ergotherapeutischen Intervention einfach nicht gerecht werden.
Vorteile für alle: Patient:innen, Ergotherapeut:innen, Ärzt:innen und Versicherungsträger
Welche Vorteile sieht Bettina Simon durch die Blankoverordnung? Die Ergotherapeutin im Vorstand des DVE nennt zwei ausschlaggebende Punkte: „Die inhaltliche Mitgestaltung und die Flexibilität“. Die inhaltliche Mitgestaltung bezieht sich auf die ergotherapeutische Behandlung und ist nicht grundlegend neu, aber an bestimmten Stellen, nämlich in puncto Heilmittel, maßgeblich. Es ist bereits State of the Art in der Ergotherapie, den Behandlungsplan gemeinsam mit den Patient:innen zu erarbeiten. Dies beginnt bereits der der ergotherapeutischen Diagnostik, die sämtliche Aktivitäten, das soziale Umfeld, die Teilhabe abfragt und ebenso alle Aspekte aus Beruf, Schule, Freizeit und so weiter klärt. Weiter beleuchten Ergotherapeut:innen einerseits die Fähigkeiten und Ressourcen, über die die Patient:innen verfügen, andererseits wo sie Einschränkungen haben und in welchen Bereichen sie Verbesserungen erzielen wollen. Aus all dem ergibt sich, welche Ziele und welches Heilmittel im Moment für die jeweilige Person am wichtigsten und am zielführendsten ist. Durch diese Vorgehensweise könnten Ergotherapeut:in und Patient:in beispielsweise zu dem Schluss kommen: „Hirnleistungstraining steht zur Zeit im Vordergrund, da die kognitiven Schwierigkeiten den Alltag stärker beeinträchtigen, als etwa die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit“. Steht jedoch ärztlich angeordnet als Heilmittel motorisch-funktionell auf der Verordnung, muss der behandelnde Ergotherapeut bzw. die behandelnde Ergotherapeutin auch motorisch-funktionell, also an den tatsächlichen Bedürfnissen von Patient:innen vorbei arbeiten. Die aktuelle Verfassung des beziehungsweise der Patient:in bleibt also genauso wie die weitere Entwicklung außer Acht. Der zweite Vorteil der Blankoverordnung ist die Flexibilität, was außer der Wahl des gerade benötigten Heilmittels auch das Terminieren der einzelnen Behandlungseinheiten anbelangt. Patient:innen, die sich gerade im Krankenstand befinden, können – sofern ihr Gesundheitsstatus dies zulässt – in kurzen Abständen Termine wahrnehmen. Für berufstätige Menschen sind Therapieeinheiten, die sich mit ihren Arbeitszeiten vereinbaren lassen, wichtig. Zusätzlicher Stress durch häufige Termine in einer ergotherapeutischen Praxis wirken in Hinblick auf den Heilungsprozess eher kontraproduktiv. „Es ist eine der Aufgaben von Ergotherapeut:innen, solche Feinheiten und Details im Erst- und Aufnahmegespräch herauszufinden; dafür haben Ärzt:innen weder Zeit, noch können sie solche Leistungen abrechnen“, lässt Bettina Simon weitere Einblicke zu, die erklären, weshalb die derzeitige Form von Verordnungen an der Realität vorbeigeht.
Das Fazit: Solange Ergotherapeut:innen mit der bisherigen Form von Verordnungen arbeiten müssen, können sie mitunter nicht das optimale Resultat erzielen. Das kann sich nicht nur negativ auf das Image dieser Berufsgruppe auswirken, es kann vor allem dazu führen, dass Krankheitsverläufe länger dauern, Patient:innen nicht so schnell oder womöglich nicht so vollständig gesunden und dadurch mehr Kosten entstehen – das will niemand. Die Patient:innen nicht und die Ergotherapeut:innen selbst am allerwenigsten.
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche
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