Großes Unglück im Zauberland, eine blutige Seehunde-Geschichte und eine Nacht im Zimmer 187 – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Sicher erinnert sich der eine oder die andere an die auch in der DDR sehr beliebte Märchenreihe des russisch-sowjetischen Schriftstellers Alexander Melentjewitsch Wolkow (1891 bis 1977), in der er Geschichten vom Mädchen Elli, dem Weisen Scheuch, dem Tapferen Löwen und dem Eisernen Holzfäller erzählt hat. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören „Der Zauber der Smaragdenstadt“ und „Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten“. Wolkows in viele Sprachen übersetzten Bücher hatten hierzulande sogar die Wende überlebt.

In seiner literarischen Nachfolge schrieb seit 1993 ein Autor angeblich namens Nikolai Bachnow eine Reihe von Fortsetzungen, die es ebenfalls weit nach oben in der Beliebtheitsskala des Lesepublikums schaffte. Was erst später herauskam: Hinter Nikolai Bachnow verbargen sich die beiden Schriftsteller Klaus Möckel und seine Frau, die nicht zuletzt als hervorragende Übersetzerin aus dem Russischen hervorgetretene Aljonna Möckel. Insgesamt brachte es ihre Fantasy-Märchen-Reihe auf acht Bände. Der letzte davon ist zugleich das zweite der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 24.02.23 – Freitag, 03. 03. 23) zu haben sind. Sein Titel lautet „Das gestohlene Tierreich“. Etwas Unvorstellbares ist im Zauberland passiert …

In seinem Roman „Und hinter mir ein Loch aus Stille“ erzählt Siegfried Maaß von einem Gewaltverbrechen: Ein Junge tötet seinen Vater. Und dennoch ist es ein Buch, welches Mut und Hoffnung macht.

In „Jeder Abschied ist ein kleines Sterben“ befasst sich Heinz Kruschel mit politischen Auseinandersetzungen in der alten Bundesrepublik, speziell in der Bundeswehr.

In „Der Traum des Templers und seine Reise über das Atlantische Meer. Ein historischer Roman über die Südamerikareise der Templer (Das Gold der Templer, Teil 2)“ von Ulrich Hinse blickt ein gewisser Joao Lourenço tatsächlich über den Horizont – und sogar darüber hinaus, weit darüber hinaus.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute geht es um eine lang zurückliegende Auseinandersetzung in Europa, die damals viele Opfer gefordert hat und deren Auswirkungen dort noch heute zu spüren sind – der „Nordirlandkonflikt“. Der Autor, ein großer Freund des irischen Volkes, war mittendrin und hat für Kinder von den Schrecken der damaligen Zeit berichtet – ist aber auch der Spur der Hoffnung gefolgt, dass es eines Tages zu Ende sein würde mit diesem Krieg zwischen Katholiken und Protestanten. Und man bekommt eine Ahnung, wie tief der Riss zwischen ihnen ist und wie schwer eine Verständigung sein wird. Und man fühlt sich an ganz ähnliche Konflikte in der heutigen Welt erinnert:

Erstmals 1977 erschien im Verlag Junge Welt Berlin „Patrick“ von Walter Kaufmann. Das für junge Leserinnen und Leser ab 9 Jahren gedachte Kinderbuch wurde von Angela Brunner illustriert, der zweiten Frau des deutsch-australischen Schriftstellers und Reporters: Belfast, Nordirland, Anfang der 1970er Jahren. Dort lebt der zwölfjährige Patrick. Er ist ein kleiner Junge, der vielleicht manchmal etwas sanft wirkt, sich aber trotzdem durchzusetzen versteht – wenn es hart auf hart kommt.

Überall in Belfast gib es auch in der Gegend, wohin die Familie von Patrick vor zwei Jahren gezogen war, Lücken, viele Lücken, wo verfallene Häuser abgerissen und keine neuen gebaut worden sind. Auch eine ganze Menge Mauern sind in letzter Zeit zerschossen oder weggebombt worden. Sie sind das Ergebnis von Auseinandersetzungen, regelrechten Straßenschlachten zwischen Katholiken und Protestanten. Selbst Kinder sind nicht sicher.

Gewohnheitsmäßig geht Patrick den Streifen britischer Soldaten aus dem Weg, auch wenn er sich an den Anblick der Streifen mit Maschinenpistolen im Anschlag längst gewöhnt hat. Aber man weiß nie, was die Soldaten von einem wollen.

Und dann muss Patrick miterleben, wie sein bester Freund Cathal Haughey von einem Soldaten in einem Jeep erschossen wurde, weil er nicht auf seinen Befehl reagierte, stehen zu bleiben …

Hier das erste Kapitel des spannenden Buches, in dem sich Patrick zunächst selber vorstellt und die Umstände, unter denen er leben muss:

  1. Kapitel

Zugegeben, ich bin ziemlich klein, manchmal kriege ich auch zu hören, dass ich mit meinem weichen dunklen Haar, den grünbraunen Augen und meiner leisen Art zu sprechen etwas sanft wirke – ist mir egal, ich weiß mich schon durchzusetzen, wenn’s hart auf hart geht. Nie hat mir einer nachsagen können, ich sei schreckhaft oder feige. Und so abergläubisch bin ich auch nicht, dass ich gleich kehrtmachen würde, wenn mir mal eine schwarze Katze über den Weg läuft. Sonst wäre ich nämlich an diesem Sonntagmorgen zu Hause geblieben, als mir das streunende Tier von links nach rechts über die Füße sprang. Es war eine pechschwarze Katze, die plötzlich vor mir auftauchte und dann mit einem Satz über Finnagans Zaun verschwand. Jetzt möchte ich fast glauben, dass das ein böses Zeichen war, denn der Tag endete böse! Damals aber beachtete ich das Tier fast gar nicht. Ich hatte was vor, und daran hielt ich mich. Es war ausgemacht, dass ich gleich nach dem Kirchgang den Maler Sean O’Connor abholen sollte, der nicht weit von uns in der Jamaica Street wohnt. Wir wollten zusammen von Hazelwood aus den Berg Cave Hill besteigen, um von da oben Bilder zu malen. Einen schöneren Ausblick über Belfast, die Bucht und das Meer als von diesem Berg gibt es nirgends sonst.

Ich freute mich auf den Ausflug. Als ich dann aber an die Tür von O’Connors kleinem Ziegelhäuschen klopfte und keiner antwortete, wurde ich schon ein bisschen unruhig. War Sean etwa ohne mich losgezogen? Ich wartete, klopfte noch mal und stieß schließlich heftig gegen die Tür. Diese gab nach. Ich trat ein und rief nach Sean, und als immer noch alles still blieb, stieg ich einfach die Treppe hoch bis ins Atelier unterm Dach. Im hellen Licht, das durch das schräge Dachfenster fiel, sah ich ihn vor seiner Staffelei stehen. Er war dabei, mit düsteren Farben das Bild einer Berglandschaft zu übermalen. Mir gefiel überhaupt nicht, was er da machte, und darum störte mich auch, dass er sich nicht einmal zu mir umsah. Es war, als hätte es gar keine Verabredung zwischen uns gegeben. Mit der Zeit verlor ich die Geduld und ließ meinen Malkasten, den ich an einem Riemen über der Schulter trug, polternd auf den Boden fallen. Da erst unterbrach er seine Arbeit, schob seine Nickelbrille auf die Stirn und drehte sich zu mir um. Sein stoppliges, unrasiertes Gesicht sah noch blasser aus als sonst. Er leidet unter einer Blutkrankheit, die schwer zu heilen sein soll; seine Augen blickten müde. Er wirkte nachdenklich und irgendwie traurig.

„Vorher gefiel mir das Bild besser“, sagte ich. „Ich hätt’s gelassen, wie’s war.“

„Das sind die Gewitterwolken von Golgatha“, antwortete er leise, „die unseren Himmel bedrohen und jetzt tief über den Bergen von Sperrin und Carntogher hängen.“

Was er damit sagen wollte, begriff ich erst, als er von dem Feuer am Grab von Daniel Devin anfing und mich fragte, ob denn der Pfarrer in der Kirche nichts davon erwähnt hätte. Ich nickte, denn ich hatte die zornigen Worte von Pfarrer Nugent noch im Ohr, wusste, was gestern passiert war, und ahnte gleich, wer dahinterstecken könnte. Mich wunderte nur, dass Sean O’Connor schon davon gehört hatte, denn der geht doch nie zur Kirche. „Der Rauch der brennenden Papierblumen soll bis weit in die Falls Road zu sehen gewesen sein“, sagte er. „Doch niemand tat was. Die Polizei griff nicht ein, obwohl sie eine Wache gleich beim Friedhof haben, und kein britischer Soldat ließ sich sehen – war ja nur das Grab von einem kleinen Jungen armer Leute!“

Ich sagte nichts, weil ich wusste, dass Daniel Devin schon mit sieben Jahren an derselben Krankheit gestorben war, an der auch Sean leidet – vielleicht stellte er sich vor, was eines Tages an seinem eigenen Grab geschehen könnte.

Ich musste an Molly Macnamara denken, die bestimmt die Papierblumen für die Kränze gebastelt hatte – sie ist nämlich weit und breit dafür bekannt, und ihre Papierlilien zum Beispiel sind auf den ersten Blick von richtigen Lilien kaum zu unterscheiden. Weil mir klar geworden war, dass aus dem Ausflug zum Cave Hill nichts mehr werden würde, beschloss ich, Molly aufzusuchen.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 2003 erschien, damals noch unter dem gemeinsamen Pseudonym „Nikolai Bachnow“ bei der LeiV Buchhandels- und Verlagsanstalt GmbH der achte und letzte Band der Nikolai-Bachnow-Bücher „Das gestohlene Tierreich“ von Klaus Möckel und Aljonna Möckel: Etwas Unvorstellbares passiert im Zauberland – das Tierreich mitsamt seinem König, dem Tapferen Löwen, wird gestohlen. Ein Riese streut Schrumpfpulver über dem Wald aus, so dass Bäume und Sträucher, aber auch die Tiere um ein Vielfaches kleiner werden. Dann rollt er alles wie einen Teppich zusammen und schleppt es als Spielzeug für seine Kinder in die Berge.

Das Unglück könnte nicht schlimmer sein! Während die Tiere größte Mühe haben, sich an ihre neue Lage anzupassen, stehen der Scheuch, Betty, Jessica und andere, die ein Waldfest besuchen wollten, dem Ereignis fassungslos gegenüber. Sie nehmen die Spur des Riesen auf, doch wie sollen sie helfen? Wieder einmal müssen sie unerwartete Hindernisse überwinden, gefährliche Abenteuer bestehen. Sie geraten in die Fänge doppelköpfiger Geier und Jessica mit Betty sogar in die Gefangenschaft des Riesenmädchens Bomm. Doch mit Hilfe eines Steinbocks und eines klugen Marabus gelangen sie schließlich ans Ziel. Gemeinsam mit den Tieren kann letztendlich die schwierige Aufgabe der Rückverwandlung in Angriff genommen werden.

„Mit dem letzten Band der Reihe beweist Nikolai Bachnow noch einmal, zu welch fantastischen Ideen er fähig ist. Die Geschichte vom Tierreich ist toll und macht dieses Märchen zu etwas ganz Besonderem“, urteilte damals eine begeisterte Kritikerin. Hier der Anfang des Märchens, der die Leser gleich in die aufregende Handlung geradezu hineinzerrt:

Erster Teil: Das unheilvolle Pulver

Der Riese

Ein dumpfes Geräusch ertönte in der Ferne, ein Stampfen, das sich wiederholte und immer lauter wurde. Der Tapfere Löwe, Herrscher des mitten im großen Zauberland gelegenen Tierreichs, hob den Kopf. Er hatte nach einem ausgezeichneten Mahl am Fuße seiner Felsenburg in der warmen Mittagssonne gedöst, doch nun wurde er wach. Die Laute waren ungewöhnlich, wenn nicht sogar beunruhigend.

Der Hase hoppelte herbei, einer seiner Minister.

„Hörst du das Trampeln, Herr?“, rief er aufgeregt. „Es scheint näher zu kommen. Was mag das sein?“

Der Löwe erhob sich.

„Das möchte ich auch gern wissen. Ganz schön unverschämt, so unsere Mittagsruhe zu stören.“ Er gähnte.

Das Geräusch verstummte, erscholl aber nach einigen Minuten erneut und noch stärker. Ein Trapsen wie von Riesenstiefeln, die Gehölz niederwalzten, Baumstämme zerbrachen.

Dem Hasen zitterten vor Angst die Pfoten, der Puschelschwanz und die langen Löffel.

„Das klingt wie ein Schritt. Als stapfte ein Riese heran!“

„Ein Riese bei uns? Bist du noch bei Verstand? Wo soll der herkommen?“

Inzwischen flatterten erschrocken Vögel durch die Luft, verkrochen sich in ihren Nestern und Baumhöhlen. Wildschweine, Füchse, Rehe flüchteten ins Unterholz.

Nun waren die Schritte schon ganz nahe. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, jagte der Hase davon, verschwand in seinem Bau. Der Löwe dagegen stieß ein wütendes Gebrüll aus. Er würde es dem Eindringling zeigen.

Doch er kam nicht dazu, den Feind ins Auge zu fassen. Ein Schatten verdunkelte die Sonne, eine Schuhsohle, fast so groß wie der Vierbeiner selbst, senkte sich auf ihn herab, so dass er mit einem jähen Satz zur Seite springen musste, wenn er nicht zertreten werden wollte. An der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte, wurden ein Strauch zermalmt, ein paar mächtige Steine in den Boden gedrückt, als sei der aus Wachs. Eine Stimme, die das Löwengebrüll um ein Vielfaches übertönte, sagte dröhnend:

„Das ist lustig. Das wird den Kleinen gefallen.“

„Wer bist du? Wer ist das, die Kleinen? Was soll ihnen gefallen?“, wollte der König des Tierreichs fragen, verstummte aber bereits nach den ersten Worten. Der Kerl, der wie ein Turm vor ihm stand, griff nämlich in einen Sack und streute mit weitem Schwung, so als säe er Korn aus, ein graues Pulver in die Gegend. Über die Wälder, die Wiesen, die Tiere und Vögel. Der Löwe duckte sich, versuchte auszuweichen – vergebens. Das schrecklich stinkende Zeug rieselte in dichten Schwaden auf ihn, die Pflanzen und Steine ringsum herab.

Der hat Schlimmes mit uns vor, will uns vielleicht sogar ersticken, schoss es dem Löwen durch den Kopf. Doch weiter kam er mit seinen Gedanken nicht. Die Beine knickten ihm weg, der Kopf wurde schwer, die Augen fielen ihm zu, und ohne etwas dagegen tun zu können, sank er betäubt zu Boden. Genau wie die anderen Wald-, Sumpf- und Steppenbewohner, die Vierbeiner und Vögel, die Schlangen, Echsen und Lurche. Selbst wenn sie sich gerade in ihren Höhlen aufhielten oder in letzter Minute dorthin geflohen waren, konnten sie nicht entrinnen. Das Pulver und sein beißender Geruch verbreiteten sich überall, drangen in jedes Loch, jede Ritze. Höchstens trat die Wirkung manchmal später ein, war ein bisschen schwächer. Auf jeden Fall aber reichte sie aus, den Tieren das Bewusstsein zu nehmen, so dass sie stumm dalagen, sich nicht mehr regen und keinen Laut mehr von sich geben konnten.

Aber noch etwas anderes, ganz Eigenartiges geschah! Es betraf neben Tieren und Vögeln auch die Bäume, Büsche, Pflanzen und sogar die Steine. Niemand außer dem Kerl, der das Pulver verstreut hatte, bemerkte anfangs die Veränderung, dämmerten doch alle in tiefer Benommenheit dahin. Und selbst als der Löwe wieder zu sich kam, begriff er die neue Lage nicht. Um ihn herum war es stockfinster, er fühlte sich eingequetscht, der Boden unter ihm schwankte und es kam ihm vor, als trüge man ihn davon. Ich bin in einen großen Teppich eingerollt, dachte er, der Riese hat mich betäubt und ein Tuch um mich geschlagen, er will mich in seine Höhle schleppen, vielleicht um mich am Spieß zu rösten. Ich muss mich unbedingt befreien.“

Erstmals im Jahre 2000 veröffentlichte Siegfried Maaß im dr. Ziethen Verlag Oschersleben seinen Roman „Und hinter mir ein Loch aus Stille“: Ein Junge tötet seinen Vater. Eine Nachricht, die zu anderen Gewaltnachrichten zu gehören scheint, die uns täglich erreichen. Beziehungen zwischen Menschen, Familienbindungen scheinen nichts mehr zu gelten, Werte verloren zu sein.

Doch Siegfried Maaß zeigt, dass das Leben nicht so einfach ist. Gerade an der Tat, die scheinbar bestätigt, dass familiäre Beziehungen keine Basis mehr haben, weist er nach, dass ein Mensch zum Täter werden kann, gerade weil ihm noch Werte vermittelt wurden, er mit der Tat diejenige rettet, der er vertraut und die er liebt. Er hat einen realen Fall gewählt, um den Ursachen nachzuspüren, zu prüfen, ob das, was sich so in den Vordergrund drängt, das Bild bestimmt, auch die Wirklichkeit ist.

Siegfried Maaß schreibt über Gewalt in der Familie. Es ist kein einfacher Stoff, aber so, wie er ihn behandelt, macht er Mut und Hoffnung. Hier der Anfang dieses beeindruckenden Romans:

1.

Sie hat die Tür hinter sich geschlossen und mir die leeren Blätter zurückgelassen. Einen dicken Stapel weißer Blätter. Als Tapete könnte die Menge für die halbe Wand ausreichen. Für die Wand in diesem miesen kleinen Loch, wo sie mich schmoren lassen, um mich kleinzukriegen. Das einem kaum genug Luft zum Atmen lässt, weil das einzige Fenster, das sich fast unter der Decke befindet, dicht verschlossen ist. Kein einziger Laut kommt von außen an mich heran. Dieses Loch aus Stille heißt bei ihnen Verwahrraum.

Aber für mich bedeutet es: Freiheitsberaubung. Das Wort kenne ich von meinem Vater. Sie haben aber kein Recht dazu, mich hier einzulochen und darauf zu warten, dass ich schwarz wie Ötzi werde. Ich nicht! Eher sie selbst!

„Da kannst du aber warten, bis du schwarz wirst!“ Das ist so ein Satz von Herta für alle Gelegenheiten, wenn sie mich entweder abwimmeln oder mir klarmachen will, dass es nicht gibt, was ich gern möchte.

Wenn ich irgendwann etwas aufschreiben sollte, müsste ich ihnen dabei erklären, dass mit Herta meine Mutter gemeint ist Aber das wissen sie vielleicht schon. Wahrscheinlich wissen sie inzwischen alles und wollen nur, dass ich von mir aus sage, was ich weiß und sie gern hören möchten. Nämlich dass ich zugebe und gestehe, es getan zu haben. Sie wollen, dass ich mich selbst verrate. Oder Herta. Weil sie vielleicht doch noch im Dunkeln tappen?

Aber nichts werden sie von mir erfahren. Weil ich nämlich nichts sagen werde. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt schon einmal etwas gesagt habe. Ich habe keine Stimme. Deswegen kam die Frau mit dem Papierstapel. Als ich sie sah, musste ich gleich an die Nixe denken, die ich als kleiner Junge auf einem bunten Bild in einem Märchenbuch entdeckt hatte. Herta hatte es mir geschenkt und es stellte meine ganze Bibliothek dar. Sie versprach mir damals, manchmal daraus vorzulesen, und immer, wenn ich sie daran erinnerte, fiel ihr eine andere Ausrede ein, und sie vertröstete mich auf den nächsten Abend. Bis ich nicht nur auf sie, sondern auch auf das Buch wütend war und es zerfetzte. Nur das Bild der Nixe rettete ich und heftete es mit einer Reißzwecke an die Wand neben meinem Bett. Bevor ich einschlief, unterhielt ich mich mit ihr und beichtete ihr alle meine kleinen Geheimnisse. Sie konnte gut zuhören, wie niemand sonst, und wenn ich auch ihre Stimme nicht vernehmen konnte, so verstand ich ihre Antworten trotzdem. Sie klangen freundlich und verständnisvoll und ließen mich beruhigt und zufrieden einschlafen. Im Schutz der Nixe erwachte ich dann am nächsten Morgen und blinzelte zu ihr hinauf …

So lange, bis mein Vater eines Tages das schöne Bild aufgebracht von der Wand riss und es zerknüllte. Er schimpfte Herta aus, weil sie es duldete, dass ich mir „Märchenfiguren“ hinhängte statt wie andere Jungen Fußballstars oder Rennfahrer.

„So wird nie ein richtiger Kerl aus ihm!“, schrie er, und ich starrte auf die Stelle an der Wand, von wo aus mir noch vor Kurzem die Nixe zugelächelt hatte.

Mein Vater wusste nicht, dass auch Herta das Bild an der Wand nicht gefallen hatte, doch aus einem anderen Grund – sie nahm es mir übel, dass ich das hübsche Buch zerrissen hatte.

Inzwischen hatte ich meine Nixe längst vergessen. Doch durch diese Frau werde ich wieder an sie erinnert. Natürlich hat sie keinen Fischschwanz, sondern im Vergleich zu Herta ziemlich lange Beine, die in engen Röhrenhosen stecken.

„Schreib einfach auf, was du erlebt hast und was du weißt. Das befreit, und dann kannst du auch bald wieder richtig Luft holen.“ Sie war schon an der Tür, als sie hinzufügte: „Und wenn du dich freigeschrieben hast, kannst du auch wieder sprechen. Danach reden wir dann über alles.“

Ich will aber nicht sprechen. Kein Wort. Ich bin sogar froh, keine Stimme mehr zu haben.

Ein dicker Stapel leerer Blätter. Vor mir auf dem Tisch. Und auch mehrere Stifte dazu. Die Nixe hat an alles gedacht.

Wenn ich eine Stimme hätte, könnte ich behaupten, nicht schreiben zu können. Aber sie wissen genau, dass ich es kann, denn ich habe meine alten Schulhefte bei ihnen gesehen, die sie aus unserer Wohnung mitgenommen haben. Wer weiß, wozu und warum. Haben ihnen vielleicht meine Geschichten gefallen, die darin aufgeschrieben sind?

2.

In der Schule werden sie bestimmt auch gewesen sein, um sich nach mir und meinem Verhalten zu erkundigen. Wenn sie dabei an Körner, den sturen grauen Esel geraten sind, haben sie nichts Gutes zu hören bekommen. Für den bin ich einfach nur ein fauler Schwänzer, der die Schule und die Lehrer für so überflüssig wie sonst nichts weiter im Leben hält. Für den jede Mühe, die die Schule ihm bereitet, umsonst ist, weil sowieso nichts aus ihm werden kann. So denkt Körner von mir. Das hat er mir auf den Kopf zugesagt.

Miss Betty wird jedoch gut für mich ausgesagt haben, Miss Betty, unsere Deutsch- und Englischlehrerin. Bei ihr beteilige ich mich gern am Unterricht, da schnipse ich schon mal mit den Fingern, weil ich die richtige Antwort weiß. Für Miss Betty sind wir keine wesenlosen Monster wie für Körner, die nimmt uns richtig ernst und macht trotzdem mal einen Spaß mit uns. Fragt auch nach unseren Vorstellungen vom Leben und unseren Wünschen. Von ihr werden sie erfahren haben, dass ich im Schreiben nicht schlecht bin, sogar über dem Durchschnitt liege.

Früher, noch in der Grundschule, als an Miss Betty noch nicht zu denken war, hat es mir immer am meisten Spaß gemacht, mir irgendeine Geschichte auszudenken. Das war eine Lieblingsidee unserer Lehrerin. Danach haben mich die anderen oft gefragt, ob ich das alles erfunden hätte oder ob es die Wahrheit wäre. Dass ich mir das alles ausdenken konnte, haben sie mir nicht zugetraut. Aber die Wahrheit?

Als ob es in Wirklichkeit vorkommen würde, dass eine Meute glitschiger Seehunde aus unserem schmutzigen Fluss heraufrobbt, dann über die Brücke patscht und den gesamten Verkehr lahmlegt. So war es nämlich in einer meiner Geschichten. Wohin man auch blickte – die Tiere glitzerten und glänzten im Sonnenlicht, als wenn die ganze Straße mit einer nassen Folie bespannt worden wäre. Langsam zog die Folie nun über Brücke und Straße und nahm einfach kein Ende.

Als ich mit meiner Geschichte begonnen hatte, wollte ich nur beschreiben, wie ein Rudel Seehunde durch unsere Stadt zieht und die Kinder sich über den ungewöhnlichen Anblick freuen. Die Mutigsten von ihnen liefen zu den Tieren, um sie zu berühren. Andere aber rannten kreischend davon und blieben erst in sicherer Entfernung stehen, um sowohl die Seehunde wie auch die mutigen Kinder zu bestaunen. Es sollte ja auch eine Geschichte zum Staunen werden. Die man eben gern liest, weil etwas geschieht, das nicht alltäglich ist. Aber plötzlich kam es mir in den Sinn, die Menschen böse und angriffslustig zu machen, weil sie sich über die verstopfte Straße ärgerten und deshalb wütend über die Tiere herfielen. Grausam schlachteten sie die Seehunde ab und zogen ihnen schließlich die Felle über die Ohren, und Brücke und Straße glichen hinterher einem einzigen großen Blutmeer.

Ich weiß noch ganz genau, wie mein Herz zum Hals hinaufschlug, als mich Frau Ruda, unsere Lehrerin, aufrief, weil ich meine Geschichte allen vorlesen sollte. Ihr Gesicht verriet mir leider nicht, was ihre Absicht dabei war. Hielt sie, was ich aufs Papier gebracht hatte, für so gut, dass es unbedingt jeder hören sollte?

Erst als sich am Ende meiner Geschichte die Mädchen fröstelnd über die Arme strichen, als ob es mitten im Sommer eiskalt in der Klasse wäre und die Jungen sich hinter ihrem merkwürdigen Lachen wie hinter einem Schutzschild verkrochen, sah ich wieder in das Gesicht der Lehrerin — es war zu einer leblosen Maske erstarrt.

Ich sollte danach unbedingt erklären, weshalb ich die Geschichte so grausam hatte enden lassen. Warum ich den „hübschen Einfall“ nicht genutzt hätte, daraus eine lustige Geschichte über Seehunde in der Stadt zu erzählen, in der sich die Menschen an den ungewöhnlichen Besuchern erfreuen.

Ich wusste es selbst nicht. Die Geschichte war so geworden.“

Erstmals 1969 erschien im Deutschen Militärverlag „Jeder Abschied ist ein kleines Sterben“ von Heinz Kruschel: Wolfgang Wittig stammt aus einer alten Offiziersfamilie und dient vor dem geplanten Kunststudium als Fähnrich bei der Bundeswehr. Aus humanistisch-ethischen Gründen strebte er ein Verfahren gegen den Soldatenschinder Unteroffizier Lingner an, der wegen seiner Jugend nur eine Bagatellstrafe erhalten hat. Aber Lingner sinnt nach Rache, die ihm zu gelingen scheint.

Nachdem bei einem NATO-Manöver zwei Soldaten aus Wittigs und Lingners Verantwortungsbereich einen gesundheitlichen Dauerschaden erleiden und nur mühsam mit dem Leben davonkommen, gibt es für Wittig nur zwei Möglichkeiten – entweder er führt einen Prozess herbei, der zum schonungslosen Aufdecken der Probleme in der Bundeswehr und damit zugleich zur Abkehr von der Wittigschen Familientradition führt oder er nutzt die Beziehungen seines Vaters, um alles im Sande verlaufen zu lassen.

Wird Wittig sich von seinem bürgerlichen Elternhaus lösen und vorbehaltlos zu seiner Freundin Doris Rappsilber und ihrem in den letzten Kriegstagen desertierten, seitdem durch Ärztepfusch blinden Vater stehen? Wittigs Schulfreund Ingo, Kriegsdienstverweigerer und Redakteur einer sehr kritischen, linken Zeitung, unterstützt ihn dabei.

Heinz Kruschel zeigt in dem spannenden Buch die Entwicklung junger Menschen vor dem Hintergrund dramatischer Ereignisse 1968 in der Bundesrepublik Deutschland, wie der Kampf gegen den Vietnam-Krieg, die geplanten Notstandsgesetze und die Durchsetzung der Bundeswehr mit Offizieren aus dem Zweiten Weltkrieg. Hier der Beginn dieses spannenden Textes:

WOLFGANG

Wo bin ich, wer bin ich, wie kann ich mich finden? Was habe ich mir dabei gedacht, Doris zu überreden, mit mir in ein Hotel zu gehen, in dieses christliche Hospiz am Hauptbahnhof mit der Bibel und der Zahlkarte für die Brüderschaft von Herrnhut auf dem Nachttisch? Ich habe sie beleidigt. Ich muss sie ja beleidigt haben, ein Zimmer für eine Nacht bitte, im ersten Stock, Nummer 187.

Schnell an dem alten Portier vorüber. Möchten Sie noch etwas trinken, mein Herr, nur was Alkoholisches haben wir nicht. Die Morgenandacht findet um neun Uhr gleich im Hause statt …

Doris ist mitgekommen, still, fügsam. An den Zimmertüren vorüber, 182, 183, 185. Hohe Damenschnürschuhe stehen auf dem Gang, sieht traurig aus, so eine Reihe altgedienter Schuhe, die die knittrigen Schäfte hängen lassen, die Schuhe frommer Schwestern. Das letzte Zimmer, Nummer 187. Unser Zimmer, ein Spruch auf dem Radio: „Ich will ihr Trauern in Freude verwandeln und sie trösten und erfreuen nach ihrer Betrübnis …“

Kein Licht machen, Liebster. Aber das Fenster führt nach hinten hinaus, die riesigen Scheinwerfer einer Baugrube erhellen das schmale Zimmer, Maschinen stampfen, die Zahnputzgläser zittern, Bagger beißen in alte Kellermauern, widerwärtiges Geräusch. Vor dem Fenster ist kein Rollo. Doris’ Haut ist weiß und kühl, sie zieht die Decke bis zum Hals und hat die Augen geschlossen. Da hast du deinen Willen, Fähnrich. Meinen Willen? Wirklich meinen Willen? Ich liebe dich, ich schäme mich.

Ich drücke auf die Taste des Radios. Jazzmusik, eine Frauenstimme singt, der Gesang ist unsentimental und herb, es ist die Fitzgerald; sie möchte ich einmal formen, eine Kleinplastik der Negersängerin, die Musikalität dieser kraftvollen Frau erfassen und gestalten können …, aber das ist ein Traum, nichts als ein Traum. Warum denn ein Traum? Was hindert mich, wer hindert mich, das zu tun, wenn ich den Dienst hinter mir habe? Ich werde Doris heiraten, die Kunsthochschule besuchen, das ist möglich, und das werde ich tun … Ein Traum. Ist Doris vielleicht ein Traum?

Mein Vater ist dagegen, meine Mutter auch. Das ist klar, Mutter hat Vaters Meinung. Sie sind gegen meinen Wunsch, Bildhauer zu werden. Und auch gegen Doris. Das hat Vater nie direkt gesagt, aber ich weiß, dass er gegen sie ist. Nichts gegen die Freundschaft, aber alles gegen dieses kleine Mädchen aus dem Buchladen. Aber was kümmert mich mein Vater? Er lebt ohne mich sogar zufriedener. Bei Doris ist das was ganz anderes, ihr Vater ist blind, und er braucht sie …

Doris schlägt die Augen auf und sieht mich an. „Komm endlich von diesem Fenster weg und mach den Mund auf“, sagt sie, „was ist los mit dir? Du hast doch was, ich kenne dich …“

Ich setze mich auf den Bettrand und küsse sie und streichele sie, aber sie schiebt mich weg. „Bitte, Wolf“, sagt sie, „was ist geschehen?“

Geschehen. Geschehen ist eigentlich nicht viel. „Du erinnerst dich an Lingner?“, frage ich. „An diesen widerwärtigen Kerl? Er ist wieder da, er ist mir zugeteilt worden, als wohlbestallter Unteroffizier. Das ist doch Schikane …“

„Ich erinnere mich gut“, sagt sie, „es kann ein Zufall sein.“

Sie kennt die Gepflogenheiten nicht. Vor einem Jahr, ich war noch Gruppenführer, war ein junger Rekrut ins Krankenhaus eingeliefert worden, ich besuchte ihn und sprach mit dem Arzt. Der Rekrut hatte eine Bauchwunde und gab vor, hingefallen zu sein. Dem Arzt erschien das seltsam, mir auch. Ich sprach mit dem Rekruten. Er kam mir verängstigt vor, aber er blieb bei seiner Begründung.

Ich redete mit seinen Kameraden. Es stellte sich heraus, dass der Unteroffizier Lingner ihn bestraft hatte. Der Rekrut hatte im Unterricht versagt und die Himmelsrichtungen verwechselt. Daraufhin ließ ihn Lingner unter den Stühlen nach Osten, Süden, Norden und Westen kriechen und bestellte ihn nach dem Unterricht zu sich.

Ich ging wieder ins Krankenhaus und quetschte die ganze Geschichte aus dem Jungen heraus. Während der Rekrut fünfzig Liegestütze absolvieren sollte, war Lingner unaufmerksam oder tat nur so, als wäre er unaufmerksam, jedenfalls blieb der Soldat auf dem Bauche liegen und zählte nur noch. Lingner merkte das, ließ den Soldaten noch zwanzig Liegestütze nachholen und hielt ihm dabei das aufgeklappte Taschenmesser unter den Bauch. Der Rekrut machte schlapp und fiel in das Messer.

Ich nahm mir den Unteroffizier vor und verlangte von ihm Rechenschaft. Lingner war erst achtzehn Jahre alt und sagte: „Ich bin auch so hart ausgebildet worden, und heute will ich gute, harte Soldaten ausbilden, der Formal-Dienst verlangt den Leuten viel zu wenig ab.“ Ich war einigermaßen entsetzt, weil ich erwartet hatte, einen zerknirschten Ausbilder anzutreffen, ich wollte mit ihm die Angelegenheit bereinigen, denn der Rekrut hatte mich gebeten, die Sache auf sich beruhen zu lassen, weil er Angst hatte. Aber nun machte ich eine Meldung und verlangte die Bestrafung Lingners. Nicht allen meinen Vorgesetzten war das recht, der Nagold-Prozess war erst vorbei, die Presse überschlug sich noch, das Ausland schlachtete die Vorfälle aus, nicht nur der Osten, auch unsere Verbündeten, und so wurde das Verfahren schnell „abgewickelt“. Fast alle Zeugen – bis auf den Unteroffizier Baer – rückten von mir ab, und der Unterausbilder wurde vom Oberamtsrichter für vier Wochen in den Jugendarrest geschickt. Er kam so milde davon, weil das Gericht der Meinung war, dass er „als Jugendlicher die Tragweite seiner Taten noch nicht recht begreifen konnte“. Ich verstand das nicht.“

Als Eigenproduktion veröffentlichte EDITION digital 2015 „Der Traum des Templers und seine Reise über das Atlantische Meer. Ein historischer Roman über die Südamerikareise der Templer (Das Gold der Templer, Teil 2)“ von Ulrich Hinse – und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Joao Lourenço, ein Templer, der als Johann Laurenz in der Nähe von Aachen groß wurde, hatte im Auftrag des Großmeisters Jaques de Molay einen Teil des Templervermögens nach Portugal gebracht. Mit Vertrauten des König Dionysius gelingt es, den in vielen christlichen Ländern verfolgten Templern eine neue Heimat in Portugal zu sichern und sie als Orden der Christusritter zu etablieren. Von dem Bischof von Lamego hört Joao, dass in Córdoba muslimische und jüdische Gelehrte Astronomie, Geografie und Kartenzeichnen unterrichten. Das interessiert ihn und er studiert die für Christen neuen Wissenschaften. Er kommt zu der Überzeugung, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel und auch Jerusalem nicht der Nabel der Welt ist, wie es die christlichen Mönche vermittelten. Er ist sicher, dass hinter dem Horizont des Atlantischen Meeres im Westen noch anderes Land liegen muss. Joao träumt davon, dorthin zu fahren. Er erwirbt ein schnelles Templerschiff, lässt es durch Handwerker des Ordens umbauen und wirbt Templerbrüder an, die mit ihm ins Unbekannte fahren wollen. Joao Lourenço findet das von Jan van Koninck (siehe „Das Gold der Templer“) versteckte Gold und finanziert damit das Realisieren seines Traums. Mit den herbstlichen Passatwinden fahren sie übers Meer nach Westen.

Ein Roman aus der Zeit des tiefsten Mittelalters mit ehrenhaften Rittern, dogmatischen Klerikern, gelehrten Muslimen und erfinderischen Juden. Und natürlich mit fiesen Schurken. Und da sehen wir auch gleich den Helden höchstselbst:

1. Kapitel

Joao Lourenço war Tempelritter. Und er stellte etwas dar. Und das wusste er auch. Sein Selbstbewusstsein war groß, aber nicht so überzogen, dass er arrogant gewirkt hätte. Eigentlich hieß der große, kräftige, junge Mann gar nicht Joao Lourenço, sondern mit richtigem Namen Johann Laurenz, war Sohn eines angesehenen Kaufmanns und stammte aus der Nähe von Aachen. Er hatte sich im Zorn von seinem Elternhaus getrennt, war nach Paris gelangt und hatte dort zu den Templern gefunden, wo er zunächst bei dem Präzeptor Gerard de Villars als Knappe gedient hatte. Der Ritter hatte seine Gewandtheit und seine Intelligenz erkannt und so war er zum Ritter aufgestiegen und zusammen mit dem Flamen Jan van Koninck in den Orden aufgenommen worden. Mit Jan hatte er sich verbunden gefühlt, weil der ein ähnliches Schicksal erlitten hatte. Joao war bei den anderen Rittern beliebt, wegen seiner Umsichtigkeit geachtet und wegen seiner Körperkraft und Geschicklichkeit im Umgang mit den verschiedensten Waffen gefürchtet. Nicht zuletzt deshalb hatte Jaques de Molay, der Großmeister des Templerordens, den dunkelblonden Mann mit den ebenmäßigen Gesichtszügen aus dem kleinen Ort Heristal nahe Aix la Chapelle zu einem der Männer bestellt, die den Schatz der Templer in Sicherheit bringen sollten. Joao war knapp dreißig Jahre alt und deutlich größer als die meisten Männer seiner Zeit. Er überragte sie um mehr als eine Haupteslänge. Stolz trug er den weißen Mantel mit dem leuchtendroten Kreuz auf der Brust, den er erst vor gut einem Jahr von Jaques de Molay verliehen bekommen hatte, als er in den Orden aufgenommen worden war.

Unter dem Mantel war das Kettenhemd zu erkennen und sein kräftiges, dunkelblondes, langes Haar wurde durch die Kapuze des Kettenhemdes verdeckt. Das Schwert an seiner linken Seite wurde nur unzureichend von dem Mantel verhüllt. Sein Gesicht war offen und wurde, anders als bei den meisten Tempelrittern, von einem gekräuselten Vollbart umrahmt. Er erschien allen, die mit ihm zu tun hatten, als ein freundlicher Mensch. Keiner hatte das Gefühl, sich vor ihm fürchten zu müssen. Wenn es aber sein musste, war er ein unerbittlicher, ja gelegentlich gnadenloser Streiter für den Glauben und seinen Orden.

Es hatte ihm wehgetan, als er von Jaques de Molay von der bevorstehenden Verhaftung aller Templer in Frankreich in Kenntnis gesetzt wurde. Geehrt hatte ihn das Vertrauen seines Großmeisters, der ihn als Vertreter des Ritters Gerard de Villars einsetzte. De Villars wurde beauftragt, einen Teil des riesigen Ordensvermögens vor dem Zugriff des französischen Königs zu retten. Mit Schiffen des Ordens, die im Hafen der Stadt La Rochelle lagen, sollten sie nach Süden fahren. Das genaue Ziel kannte nur de Villars. Sein Freund Jan van Koninck, ein Ritter aus Flandern, der mit ihm zusammen im Temple de Paris ausgebildet und in die Reihen der Tempelritter aufgenommen worden war, sollte mit einem Wagenzug nach Kastilien und weiter zur Templerfestung Ponferrada. Ein weiterer Wagenzug der Templer sollte von der Kanalküste nach England übersetzen, um sich dort in Sicherheit vor ihren Verfolgern zu bringen.

Knapp ein Jahr war vergangen, als sie sich von Paris aus in Bewegung gesetzt hatten. Nahe Orleans hatten sich die Wagenzüge getrennt. Villars und er waren Richtung La Rochelle weitergezogen, während Guido de Voisius und Jan van Koninck in Richtung der alten Westgotenresidenz Rennes le Chateau weitergefahren waren. Überraschend hatten sie sich im Sommer, der auf die Verhaftungen folgte, in der Templerfestung Ponferrada im iberischen Königreich Kastilien y Leon wiedergetroffen. De Villars hatte die Templerschiffe in einem kleinen Hafen in Asturien entladen lassen, um sie dann mit ihren Mannschaften nach, wer weiß wohin, zu entlassen. De Villars hatte Joao die Fracht und das Kommando übergeben und wollte allein auf dem Landweg nach Barcelona und von dort weiter zu den Ordensbrüdern nach Mallorca. Joao hatte sich für Portugal entschieden. Warum, wusste er nicht. Es war nur so ein Gefühl gewesen.

Jetzt stand Joao Lourenço in einer kleinen Kirche in Galiziens Bergen gut eine Tagesreise südlich von Ponferrada und ebenso weit von der portugiesischen Grenze nördlich Bragança entfernt. Tränen rannen seine Wangen hinunter. Am Altar stand ein Mönch, der vor den Tempelrittern eine Totenmesse zelebrierte. Vor einer halben Stunde hatten sie vor dem Portal der kleinen Kirche seinen Freund Jan van Koninck beerdigt. Er war im Kampf gegen Söldner des französischen Königs, die ihn verfolgt hatten, um ihm das Gold der Templer abzunehmen, schwer verwundet worden. Die Hilfe durch Joao und seine Männer war eine halbe Stunde zu spät eingetroffen. Joao hatte zwar die Söldner niedergemacht, aber seine Ordensbrüder konnten nicht mehr gerettet werden.

Jan hatten sie schwer verletzt vom Schlachtfeld geborgen und zu einem nicht weit entfernten Kloster gebracht. Aber die Mönche konnten auch nichts mehr für ihn tun. Auf seinen Wunsch hin hatten sie Jan von Koninck nach Santiago de la Requejada getragen, wo er vor dem Portal der kleinen Kirche bestattet werden wollte. Joao hatte sich zwar gewundert, aber der Wunsch seines Freundes war ihm Befehl gewesen. Der Abt hatte ihnen einen seiner Mönche als Wegkundigen mitgegeben, der auch die Totenmesse zelebrieren sollte. Und so waren Joao und seine Mannen den mühsamen Weg hinauf in die Berge geritten und an der kleinen, verlassenen Kirche angekommen. Verwundert hatte sich Joao umgesehen. Der Ort war ganz offensichtlich unbewohnt, die Häuser von allen Menschen verlassen. Einige wenige Ziegen grasten in der Nähe und ließen vermuten, dass Hirten anwesend waren. Zu sehen waren sie nicht. Seltsam war, dass genau hier in dieser Einöde Jan van Koninck hatte begraben werden wollen.

Die heilige Messe war wie im Nebel an Joao vorbeigegangen. Zu sehr beschäftigten ihn seine Gedanken. Aus diesen wurde er gerissen, weil der Mönch zur heiligen Kommunion bat. Joao ging wie in Trance nach vorn und stieg die wenigen Stufen zum Altar hinauf. Dort kniete er sich nieder und wartete auf die Hostie. Nachdem er sie erhalten hatte, verneigte er sich vor dem Kreuz auf dem Altar. Sein Blick fiel dabei auf eine Ecke des Altarsockels. In dieser Kirche, die schon seit Jahren nicht mehr genutzt worden war und die jetzt erst wieder eine heilige Messe erleben durfte, starrte alles vor Staub. Nur die Ecke am Altar war sauber. Bevor Joao aufstand, sah er sich noch einmal um. Staub und Dreck, wohin er auch sah. Dann blickte er wieder auf die Sockelecke. Hier lag nicht ein Körnchen Dreck. Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass der Altar und auch der Sockel darunter vor nicht langer Zeit bewegt worden sein mussten.

Der Mönch räusperte sich. Joao wurde mit einem Schlag bewusst, dass er den Fortgang der heiligen Kommunion blockierte. Langsam stand er auf, um seinen Mitstreitern den Empfang des Leibes Christi zu ermöglichen. Er stellte sich wieder in seine Reihe vor dem Altar und dachte nach. In Ponferrada hatte Jan das Gold noch gehabt. Am Ort der Schlacht waren seine Wagen leer gewesen. Beim Tross der gefallenen Franzosen hatte sich kein Gold befunden. Jan musste es demnach unterwegs gebunkert haben. Warum hatte er unbedingt wieder in diese verdammte Einöde gewollt?“

Noch heute umgeben den Orden der Templer und seinen riesigen Schatz wie auch die Geschichte seines Untergangs viele Geheimnisse. Und eben diese Geheimnisse sind es, die auch Ulrich Hinse veranlasst haben, sich mit diesem Ritterorden zu befassen und seine Leserinnen und Leser daran teilhaben zu lassen.

Viel Vergnügen beim Lesen (und vielleicht auch ein wenig beim Nachlesen über die Historie der Templer), bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter, einen schönen Sprung in den neuen Monat März, in dem am 20. März 22.24 Uhr Mitteleuropäischer Zeit (MEZ) offiziell der diesjährige Frühling beginnt. Und damit beginnt eine Zeit der neuen Hoffnung, der längeren Tage und nicht zuletzt der wohlbekannten Frühlingsgefühle. Wie schon gesagt, viel Vergnügen und bis demnächst.

Und um zum Schluss noch einmal kurz auf die Templer und ihren im Roman von Hinse erwähnten dreiundzwanzigsten und zugleich letzten Großmeister des Ordens Jacques de Molay zurückzukommen, der war am Freitag, dem 13. Oktober 1307, auf Befehl des Königs verhaftet und nach langer Untersuchung am 18. März 1314 auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden – und das, obwohl er und der mitangeklagte Geoffroy de Charnay sämtliche Geständnisse widerrufen hatten. Noch kurz zuvor soll de Molay noch einen Fluch gegen den König und gegen den Papst ausgerufen haben. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte …

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