EuGH-Urteil: Deutsche Vorratsdatenspeicherung rechtswidrig

Die deutsche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung verstößt gegen das EU-Recht. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag (20.09.) entschieden. Ohne Anlass dürfen Kommunikationsdaten nur unter strengen Voraussetzungen gespeichert werden. Damit bestätigt das Gericht seine bisherige Rechtsprechung, die auf eine Reihe von Urteilen zu den Regelungen anderer EU-Staaten zurückgreifen kann. 

„Die langjährigen Versuche der Bundesregierung, eine allgemeine Vorratsdatenspeicherung durchzusetzen, sind erneut gerichtlich gescheitert”, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wir appellieren an die Ampel-Koalition, die Diskussionen um potenzielle Neuauflagen nun endgültig ad acta zu legen und das Versprechen im Koalitionsvertrag einzuhalten. Dieser schließt nämlich eine anlasslose Speicherung von Kommunikationsdaten der Bürgerinnen und Bürger aus.” 

Um die Vorratsdatenspeicherung gibt es seit Jahren ein juristisches Tauziehen. Bereits 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht die Ende 2007 von Union und SPD beschlossene Regelung zur Vorratsdatenspeicherung gekippt. 2015 führte die Große Koalition die Regelung in abgewandelter Form erneut ein, doch schon wenige Monate später setzte ihr der EuGH enge Grenzen. Ab 2017 wurde die Speicherpflicht vorerst ausgesetzt

Reporter ohne Grenzen (RSF) begrüßt das Urteil des Gerichtshofs zur deutschen Regelung der Vorratsdatenspeicherung – allerdings zeigt sich die Organisation besorgt darüber, dass das Gericht etwa die IP-Vorratsdatenspeicherung nicht beanstandet hat. Wenn es um die Verteidigung der nationalen Sicherheit gehe und der Mitgliedstaat sich einer ernsthaften Bedrohung gegenübersehe, ist laut Gericht eine Speicherung der Daten für einen begrenzten Zeitraum möglich. Ebenso zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Prävention schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit kann eine Vorratsdatenspeicherung entlang von begrenzten Kriterien für bestimmte Personen oder Orte umgesetzt werden. 

RSF kritisiert seit mehreren Jahren, dass die Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten der Kommunikation einen schweren Eingriff in die Pressefreiheit und Grundrechte bedeutet. Die pauschale und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung ist ein Instrument der Überwachung. Es untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und schädigt damit die Pressefreiheit. Zudem schützt das Gesetz Berufsgeheimnisträgerinnen und -geheimnisträger, zu denen Medienschaffende gehören, nur unzureichend: Ihre Verbindungsdaten sollten zwar gespeichert, aber nicht verwendet werden. Weil Verbindungsdaten und IP-Adressen gespeichert werden, können Informantinnen und Hinweisgeber identifiziert werden. Das könnte sie davon abschrecken, überhaupt Kontakt zu Medien zu suchen. Darüber hinaus können Standort- und Verkehrsdaten einer Person, die über mehrere Wochen gespeichert werden, sehr genaue Rückschlüsse über das Privatleben geben: Aufenthaltsorte, soziale Beziehungen, Vorlieben und ausgeübte Tätigkeiten. Dieser Argumentation folgt auch das Gericht, denn mit diesen Angaben kann man Personenprofile erstellen – wie schon das Beispiel von Malte Spitz 2011 deutlich zeigte.

Dass das Gericht die Speicherung von IP-Adressen nicht beanstandet hat, fließt erneut in die Diskussion um eine potenzielle Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung ein. Denn Sicherheitspolitikerinnen und -politiker sehen in ihr ein zentrales Instrument gegen organisierte Kriminalität und sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige. Jedoch ist das häufig hervorgebrachte Argument der Politik, die Vorratsdatenspeicherung erhöhe den Schutz von Kindern, nicht stichhaltig. Im Januar 2022 bestätigte eine Antwort der Bundesregierung, dass Vorratsdatenspeicherung nicht notwendig ist. Laut Daten des Bundeskriminalamts konnten von 2017 bis 2021 nur drei Prozent aller Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder aufgrund fehlender IP-Adressen nicht weiterverfolgt werden. Vielmehr gilt: Anonyme Kommunikation schützt Kinder, indem sie anonyme Beratung, Selbsthilfe und Strafanzeigen ermöglicht. Ein Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht schrieb über die Wirkung der IP-Vorratsdatenspeicherung: “Insbesondere gibt es bislang keinen Hinweis dafür, dass durch eine umfängliche Verfolgung aller Spuren, die auf das Herunterladen von Kinderpornografie hindeuten, sexueller Missbrauch über den Zufall hinaus verhindert werden kann.”

Gemeinsam mit 26 weiteren Organisationen und Einzelpersonen hat Reporter ohne Grenzen einen offenen Brief gegen das Speichern von IP-Daten unterzeichnet. 

Der Koalitionsvertrag von FDP, Grünen und SPD schließt jede Form der anlasslosen Speicherung der Kommunikationsdaten der Bürgerinnen und Bürger aus: “Angesichts der gegenwärtigen rechtlichen Unsicherheit, des bevorstehenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs und der daraus resultierenden sicherheitspolitischen Herausforderungen werden wir die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können.” Das betrifft auch die von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser erhobene Forderung nach der Einführung einer anlasslosen und pauschalen IP-Vorratsdatenspeicherung. Reporter ohne Grenzen fordert die Bundesregierung auf, das Versprechen des Koalitionsvertrags gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern einzuhalten.

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