Wie die Versorgung in Deutschland gesichert oder sogar verbessert werden kann, diskutieren Experten am 19. August in Rostock zur 6. offenen Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) in Kooperation mit der Universität Rostock und der Universitätsmedizin Rostock unter Leitung von Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier.
Versorgung nach Maß
Den Drang zur Bewegung hatte der 69-jährige Dietmar Nikolaus bereits vor seinem Unfall vor 50 Jahren, der zur Amputation seines rechten Fußes und linken Unterschenkels in der Universitätsklinik Münster führte. Nach der sicheren Nutzung seiner beiden Unterschenkelprothesen kehrte er vor 35 Jahren in den aktiven Sport zurück. „Für mich ist das Bedürfnis nach Bewegung ganz selbstverständlich“, erklärt Dietmar Nikolaus, der seit 2005 in der Nähe von Güstrow eine neue Heimat gefunden hat.
Seither betreut ihn die Liebau Orthopädietechnik in Rostock. „Allein die Doppelamputation stellt grundsätzlich eine besondere Herausforderung bei der Versorgung mit Prothesen dar, hier kommt noch die unfallbedingt schwierige Knochen- und Weichteilsituation der Stümpfe dazu. Beides zusammen – eine echte Herausforderung und komplexe Aufgabe für unsere Techniker, gerade bei so anspruchsvollen und aktiven Anwendern wie Herrn Nikolaus“, kommentiert Andreas Kohn, Orthopädietechniker-Meister und Gesellschafter/Geschäftsführer bei Liebau die Alltags-Prothesenversorgung des Dipl.-Wirtschaftsingenieurs im Ruhestand.
Darüber hinaus verfügt Dietmar Nikolaus über einen maßgefertigten Sportrollstuhl für den Rollstuhlbasketball sowie maßgefertigte Mono- und Wasserski. Im schnellen und mit viel Körperkontakt verbundenen Rollstuhlbasketball fühle er sich mit seinen Alltagsprothesen eher behindert und verzichte daher auf Prothesen im Sportrollstuhl, so Nikolaus. Im Alltag erlauben ihm aber die beiden Unterschenkelprothesen, die aufgrund der komplizierten Verletzungen rechts mit Abstützungen bis zum Knie und links bis zur Hüfte ausgestattet sind, ein relativ schmerzfreies Laufen.
„Da es sich bei meiner Verletzung um einen Arbeitsunfall handelte, übernimmt meine Berufsgenossenschaft den Großteil der Kosten der Hilfsmittelversorgung auch für meinen Sport. Nur meine Wasserskier habe ich selbst finanziert“, so der begeisterte Sportler. „Ich bin sehr zufrieden mit meiner Situation, weiß aber, wie schwierig sich die Kostenübernahmen für gesetzlich Versicherte darstellt. Ich kann nur sagen: Gebt den Leuten, was sie brauchen!“, fordert er mit Blick auf die Kostenträger. Denn die Versorgung mit Prothesen habe in den letzten Jahrzehnten unglaubliche Fortschritte gemacht. Er habe zu Beginn noch ein Holzbein mit Lederschaft getragen und freue sich heute über die wesentlich angenehmer zu tragende Prothesenkonstruktion aus leichtem Carbonmaterial in kosmetischer Ummantelung mit Schäften aus Hightech-Kunststoff, so der Multi-Sportler.
Menschen brauchen Bewegung – vom Spitzensport lernen
Sport hält Dietmar Nikolaus für absolut notwendig für Körper, Seele und Teilhabe. Doch leider würden sich zu wenige Menschen mit oder ohne Einschränkung bewegen wollen. Diese Position vertritt auch PD Dr. Christoph Lutter, aktuell Leiter der Sektion Sportorthopädie an der Klinik und Poliklinik für Orthopädie der Universitätsmedizin Rostock: „Wir können aus der Versorgung von Para-Leistungssportlern unglaublich viel für die Alltagsversorgungen lernen. Deshalb sollen sich Vertreter aus Medizin und Orthopädie-Technik zum Austausch mit Parasportlern in Rostock treffen. Gemeinsam wollen wir die hohe Qualität der Hilfsmittelversorgung in Deutschland sichern und weiter vorantreiben.“
Für Dr. Rolf Kaiser, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin I des Klinikums Südstadt Rostock, kommt ein weiterer Aspekt hinzu: „Die Sportmedizin im Parasport hat sich enorm weiterentwickelt und ich freue mich, dass die DGIHV-Fachtagung den Rahmen für den wissenschaftlichen und kollegialen Austausch bietet, um unsere Sportler in Mcklenburg-Vorpommern auch weiterhin professionell betreuen und versorgen zu können. Die öffentliche Anerkennung und die Präsenz in den Medien fungiert als ‚Booster‘ für den Parasport und Rostock bietet alle Möglichkeiten, sich als zentralen Standort zu empfehlen.“
Christoph Lutter und Rolf Kaiser gehören zu den Referenten der 6. offenen Fachtagung der DGIHV, die am 19. August in der Aula der Universität Rostock stattfindet. Die Tagung mit Experten aus Medizin, Orthopädie-Technik und dem Parasport rund um Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier, Klinikdirektor der Orthopädischen Klinik in Rostock und erster Vorsitzender der DGIHV, steht unter der Überschrift „Parasport, Hilfsmittel, Teilhabe“. „Wir müssen das öffentliche Bewusstsein stärken, dass Sport auch und besonders für behinderte Kinder eine wesentliche Förderung ihrer Entwicklung bewirken kann“, so Mittelmeier. Zur Fachtagung geben zahlreiche Experten ein Update zur qualitätsgesicherten Hilfsmittelversorgung im Grenzbereich. Zu ihnen gehört auch der Extremsportler und Orthopädietechniker Stephan Büchler.
Sich selbst und anderen helfen
Mit 15 Jahren erhielt Stephan Büchler die Diagnose Krebs. Ein Jahr später, 1997, fand am Universitätsklinikum Rostock die lebensrettende Amputation des rechten Beines oberhalb des Knies statt. Mit einer Oberschenkelprothese versorgt, gab es anschließend nur eine Priorität für den Teenager: eigenständige Mobilität. So kam ihm die Idee zum Radfahren.
Vor 20 Jahren nahm er an der ersten großen Tour, der Hansetour mit 4.000 Kilometern – davon rund 2.000 mit dem Fahrrad – teil. Längst ist er als Radprofi eine feste Größe. Stephan Büchler hat weltweit bereits an etlichen internationalen Wettkämpfen teilgenommen. Bei den Extremity Games in Downhill für amputierte Sportler in den USA errang er zweimal Bronze und zweimal Gold. Als erster amputierter Sportler absolvierte er die Megavalanche, das längste Mountainbike-Downhill-Rennen der Welt in den Pyrenäen. Sein Vorteil bei allen Wettbewerben: Stephan Büchler ist mit Herzblut Orthopädietechniker und Gangschultrainer beim Orbisana Sanitätshaus in Wismar. Er wirkt bei Forschung und Entwicklung von Prothesenpassteilen mit. „Was kann es Besseres geben, als sich selbst und anderen helfen zu können?“, meint der 42-Jährige und betont, wie wichtig die Zusammenarbeit von Ärzten, Orthopädietechnikern und Physiotherapeuten ist, um die Hilfsmittelversorgung für Sportler und Nichtsportler stetig zu verbessern.
Programm 6. offene Fachtagung der DGIHV am 19. August in der Aula der Universität Rostock
10:00 Eröffnung (10 min)
Prof. Dr. Wolfgang Schareck, Rektor der Universität Rostock,
Professor für Gefäß- und Transplantationschirurgie
10:15 Grußwort (5 min)
Stefanie Drese, Ministerin für Ministerin für Soziales, Gesundheit und Sport Mecklenburg-Vorpommern
10:25 Grußwort (5 min)
Prof. Dr. Andreas Crusius (angefragt), Präsident der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern
10:30 Hilfsmittel in der Parasport Leichtathletik: Möglichkeiten (10 min)
Felix Streng (angefragt), Paralympics-Sieger
10:45 Betreuung im Wintersport (10 min)
Dr. Hartmut Stinus, Orthopädieschuhtechniker, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Teamarzt des Deutschen Paralympischen Ski-Team alpin, Ltd. Sportarzt Olympia 2022 Peking
11:00 Betreuung im Sommersport (10 min)
Dr. Rolf Kaiser, Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Sportmedizin, Teamarzt Leichtathletik, Paralympics 2021 Tokio
11:15 Grenzen der Hilfsmittel in der Para-Leichtathletik (10 min)
Stephan Büchler, Orthopädietechniker, Parasport Athlet Extremsport Mountainbike
11:30 Sportliche Belastung im Parasport am Beispiel Klettern (10 min)
Dr. Christoph Lutter, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Teamarzt Deutscher Nationalkader Klettern
11:45 „Wie viel ‚Optimierung‘ ist medizinisch noch vertretbar?" (10 min)
Prof. Dr. Anja Hirschmüller, Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie, Altius Swiss Sportmed Center in Rheinfelden, gemeinsam mit Prof. Dr. Bernhard Greitemann Leitung Komitee Behindertensport der Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS), Teamärztin Team Deutschland Paralympics Peking 2022
12:00 Abschlussdiskussion
12:15 -13:15 Pause
13:15 Leistungsklassifikation im Behindertensport: Wunsch & Realität (10 min)
Prof. Dr. Frank Braatz (Vertretung angekündigt 15.7.), Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Physikalische und Rehabilitative Medizin, PFH Göttingen, Vorsitzender der Vereinigung für Technische Orthopädie (VTO)
13:30 Anforderungen an die Stumpfbelastbarkeit im Parasport (10 min)
Prof. Dr. Bernhard Greitemann, Ärztlicher Direktor der Klinik Münsterland am RehaKlinikum Bad Rothenfelde, Leitung Komitee Behindertensport der Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS), Vorstandsmitglied DGIHV
13:45 Aktuelles Thema: Invictus-Games – neuer Weg zur Wertschätzung von Kriegsversehrten
(10 min)
Oberstarzt Dr. med. Andreas Lison, Facharzt für Orthopädie, Leiter Zentrum für Sportmedizin der Bundeswehr in Warendorf
14:00 Podiumsdiskussion „Was brauchen wir in der Zukunft?“
Moderation: Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier, Facharzt für Orthopädie & Unfallchirurgie, spezielle Orthopädische Chirurgie, Kinderorthopädie und Klinikdirektor der Orthopädischen Klinik Universitätsmedizin Rostock, Teamarzt Karate-Nationalteam, Vorstandvorsitzender DGIHV.
Als Diskussionspartnerin ist neben den Fachleuten aus Medizin, Technik und Sport auch Katy Hoffmeister, MdL, als Gesundheitspolitikerin geladen.
Die Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV) ist als gemeinnütziger Verein eingetragen und hat ihren Sitz in Dortmund. Die Gesellschaft hat sich zum Ziel gesetzt, Ansprechpartner für alle medizinischen und technischen Fragestellungen in der Technischen Orthopädie und der Hilfsmittelversorgung der Patienten zu sein. Die Förderung von Wissenschaft und Forschung sowie des Gesundheitswesens zählt sie zu ihren zentralen Aufgaben.
DGIHV e.V.
Reinoldistr. 7-9
44135 Dortmund
Telefon: +49 (231) 557050-11
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Telefon: +49 231 55 70 50 – 60
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