„Schon vor dem Krieg wurden Journalistinnen und Reporter in Russland massiv an ihrer Arbeit gehindert“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Nun ist der Informationskrieg in vollem Gange. Um den Einmarsch in die Ukraine vor der russischen Bevölkerung zu rechtfertigen, muss Präsident Putin alle Medien in den Kampfmodus versetzen, indem er die Opfer des Krieges verschweigt. Aber die Zeit der Prawda ist vorbei. Wir unterstützen unabhängige Medien, die in dieser äußerst angespannten Situation eine zuverlässige Berichterstattung bieten.“
Am 28. Februar sperrte die Medienregulierungsbehörde Roskomnadsor den Zugang zu mindestens sechs Online-Medien: Nastojaschtsche Wremja, ein Online-Fernsehsender des in Prag ansässigen US-Senders Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), Krym Realii, ein RFE/RL-Ableger auf der Krim, das oppositionelle Medienunternehmen The New Times, die Studierendenzeitung Doxa, der russische Ableger der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine und die regierungsfreundliche ukrainische Nachrichtenseite Gordon. Grund für die Sperrung sei die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg gewesen.
Juristische VerfolgungRoskomnadsor hat außerdem wegen der angeblichen „Verbreitung falscher Informationen“ Verfahren gegen mindestens zehn Medien, darunter der Moskauer Radiosender Echo Moskwy, die populäre Nachrichtenseite Mediazona, TV Doschd und die investigative Zeitung Nowaja Gaseta eingeleitet. Der Herausgeber der Nowaja Gaseta, Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, hatte ein Video veröffentlicht, in dem er zu einer großen Antikriegsbewegung aufrief. Zudem erschien die Ausgabe der Zeitung vom 26. Februar als Zeichen der Solidarität sowohl auf Russisch als auch auf Ukrainisch. Die Zeitschrift Journalist wurde ebenfalls angeklagt, vermutlich, weil sie Muratows Video zeitweise auf ihrer Website veröffentlicht hatte. Alle angeklagten Medien hätten, so Roskomnadsor, „falsche Informationen über den Beschuss ukrainischer Städte und den Tod von Zivilistinnen und Zivilisten in der Ukraine als Folge der Aktionen der russischen Armee veröffentlicht sowie Inhalte verbreitet, in denen die laufende Operation als Angriff, Invasion oder Kriegserklärung bezeichnet wird“.
Andere Medien löschten Inhalte, nachdem sie von Roskomnadsor gewarnt worden waren, weil sie befürchteten, dass ihre Websites gesperrt oder sie mit einer Geldstrafe von bis zu 5 Millionen Rubel (mehr als 50.000 Euro) belegt werden könnten. Das Online-Medium Prospekt Mira aus Krasnojarsk musste einen Artikel über Explosionen in ukrainischen Städten löschen.
Auch die sozialen Medien wurden ins Visier genommen. Die Provider wurden angewiesen, den Zugang zu Twitter einzuschränken. Auch den Zugang zu Facebook ließ Roskomnadsor beschränken, nachdem Facebook entschieden hatte, Inhalte bestimmter staatlicher und regierungsnaher Medien seltener in den Suchergebnissen anzuzeigen. Pavel Durov, der Gründer des verschlüsselten Nachrichtendienstes Telegram, hatte zunächst erklärt, den Zugang zu seiner Plattform in der Ukraine und in Russland wegen der unkontrollierten Verbreitung von Fake News auf vielen Telegram-Kanälen einzuschränken, zog dies aber später zurück.
Verhaftungen von Journalistinnen und ReporternMehrere Medienschaffende wurden wegen ihrer Berichterstattung über den Krieg verhaftet. Polina Ulanowskaja von der Website SotaVision und mindestens drei weitere Reporterinnen und Reporter lokaler Nachrichtenseiten – Walerija Dulskaja von 93.ru und Walerija Kirsanowa und Nikita Sirjanow von Yuga.ru – wurden am 27. Februar bei der Berichterstattung über eine Anti-Kriegs-Demonstration in der südwestlichen Stadt Krasnodar festgenommen. Sie wurden am Abend wieder freigelassen.
Drei Reporter des russischen Dienstes von RFE/RL, Radio Swoboda – Iwan Woronin, Artjom Radygin und Nikita Tatarskij – wurden am 24. Februar bei der Berichterstattung über eine Anti-Kriegs-Demonstration in Moskau verhaftet und verbrachten sechs Stunden auf einer Polizeiwache, bevor sie nach dem Einschreiten ihrer Anwältinnen und Anwälte ohne Anklage freigelassen wurden.
Die Journalisten der Nowaja Gaseta, Ilya Asar und Iwan Schilin, sowie zwei Journalisten von Radio Swoboda, der Reporter Sergei Chasow-Kassia und der Kameramann Andrei Kiselew, verbrachten am 26. Februar mehr als zwei Stunden auf einer Polizeiwache, nachdem sie bei der Vorbereitung einer Antikriegsdemonstration in Belgorod, einer Stadt nahe der ukrainischen Grenze, festgenommen worden waren. Als die beiden Nowaja-Gaseta-Journalisten ein Krankenhaus betraten, um dort eingelieferte Verletzte zu interviewen, seien sie von einem Wachmann aufgefordert worden, das Krankenhaus zu verlassen. „Gestern wurde eine Journalistin von Belsat [einem belarussischen Exil-Fernsehsender mit Sitz in Polen] in diesem Krankenhaus misshandelt und gezwungen, alle ihre Fotos zu löschen", berichteten sie und fügten hinzu, dass „sie sagt, sie habe mehr gesehen als wir“.
Schikanen gegenüber MedienschaffendenTrotz der Risiken haben Journalistinnen und Journalisten gegen dieses Vorgehen des Staates protestiert. Mehrere wurden verhaftet, weil sie ein Plakat hochhielten, auf dem sie die Zensur kritisierten – die einzige erlaubte Form des Protests. Auf andere, wie Elena Chernenko, wurde Druck ausgeübt. Die Leiterin der Auslandsredaktion der Wirtschaftszeitung Kommersant wurde aus dem Pool der vom Kreml akkreditierten Reporterinnen und Reporter ausgeschlossen, weil sie einen offenen Brief gegen den Krieg veröffentlicht hatte, der von mehr als 300 Journalisten unterzeichnet worden war.
Die staatlichen Medien ziehen unterdessen in die Schlacht. Der Fernsehsender Rossija 1 beschloss am 27. Februar, deutlich mehr Sendezeit für Regierungspropaganda einzuräumen, etwa für die Talkshow des TV-Stars Wladimir Solowjew, gegen den internationale Sanktionen verhängt wurden. In seiner Sendung am 24. Februar sagte er: „In Russland sollten russische Beamte und Journalisten beseitigt werden, wenn sie Putin nicht unterstützen.“
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf Platz 150 von 180 Staaten. Mehr zur Lage von Journalistinnen und Journalisten in Russland finden sie hier.
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