Das Risiko, aus der Mittelschicht abzusteigen, hat in den vergangenen Jahren vor allem in der unteren Mittelschicht zugenommen. Gefährdet sind all jene, die unter Berücksichtigung der Haushaltsgröße ein verfügbares Einkommen zwischen 75 und 100 Prozent des mittleren Einkommens haben. Zwischen 2014 und 2017 rutschten 22 Prozent von ihnen im erwerbsfähigen Alter (18 bis 64 Jahre), also mehr als jede:r Fünfte, in die untere Einkommensschicht und waren damit arm oder von Armut bedroht. Der Anteil der Betroffenen lag zuletzt um vier Prozentpunkte höher als Mitte der 1990er. Für sie war das Abstiegsrisiko damit dreimal höher als im mittleren und sogar sechsmal höher als im oberen Teil der Mittelschicht (100 bis 150 bzw. 150 bis 200 Prozent des mittleren Einkommens). Gleichzeitig haben sich auch die Chancen, binnen vier Jahren in die Mittelschicht aufzusteigen, um mehr als zehn Prozentpunkte substanziell verringert und lagen zuletzt bei rund 30 Prozent.
Zu diesen Ergebnissen kommen die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Bertelsmann Stiftung, die eine umfassende und international vergleichende Analyse der Situation und Entwicklung der Mittelschicht in Deutschland vorgelegt haben. „Wer in Deutschland einmal aus der Mittelschicht herausfällt, hat es heute deutlich schwerer, wieder aufzusteigen“, erklärt Valentina Consiglio, Mit-Autorin und Arbeitsmarktexpertin der Bertelsmann Stiftung.
Jüngere Erwachsene besonders betroffen
Im Vergleich mit 25 weiteren OECD-Ländern schrumpfte die Mittelschicht nur in Schweden, Finnland und Luxemburg stärker als in Deutschland. Jüngere Erwachsene waren davon in Deutschland besonders betroffen: Der Anteil der 18- bis 29-Jährigen, die zur Einkommensmitte gehören, ist mit einem Rückgang von zehn Prozentpunkten überdurchschnittlich stark gesunken. Das zeigt auch der Generationenvergleich: Während es noch 71 Prozent der Babyboomer:innen (Jahrgänge 1955 bis 1964), nach dem Start ins Berufsleben in die Mittelschicht schafften, gelang dies nur noch 61 Prozent der Millenials (Jahrgänge 1983 bis 1996). Dabei spielt Bildung eine immer wichtigere Rolle: Der Anteil der 25- bis 35-Jährigen mit niedrigem oder mittlerem Bildungsniveau, die es in die Mittelschicht schaffen, ist im Vergleich zu 1995 überproportional gesunken: Für jene ohne Abitur oder Berufsausbildung um 27 Prozentpunkte (von 67 auf 40 Prozent) und für jene mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder Abitur um 12 Prozentpunkte (von 73 auf 61 Prozent). Lediglich der Rückgang für junge Erwachsene mit einem Meister oder Hochschulabschluss lag mit fünf Prozentpunkten unterhalb des Bevölkerungsdurchschnitts. „Eine gute Ausbildung und ein Studium sind wichtig. Bildungsrückstände, die durch die Pandemie entstanden sind, müssen dringend aufgeholt werden, sonst wird vielen der mühsame Aufstieg in die Mittelschicht zusätzlich erschwert“, mahnt Consiglio.
Um die Mittelschicht zu stärken, fordern die Studienautor:innen den Abbau von Barrieren auf dem Arbeitsmarkt. Beschäftigte mit geringen Wochenarbeitsstunden, insbesondere Minijobber:innen, profitieren seltener von Weiterbildungen sowie betriebsinternen Aufstiegsmöglichkeiten. Die Analyse zeigt, dass dies auch die Chance auf einen Platz in der Mittelschicht verringert: Während nur ein Viertel der Beschäftigten in der Mittelschicht in Teilzeit arbeitet, sind es in der unteren Einkommensgruppe 43 Prozent.
Niedriglohn verringert Chance auf einen Platz in der Mittelschicht
Hinzu kommen die Auswirkungen schlechter Bezahlung. Etwa ein Sechstel (18 Prozent) der Vollzeitbeschäftigten, die in Mittelschicht-Haushalten leben, arbeitet zum Niedriglohn. Bei Beschäftigten in der unteren Einkommensgruppe ist der Anteil hingegen viermal so hoch. Dabei schwächt der große Niedriglohnsektor die Situation der unteren Einkommensgruppen zusätzlich, da Niedriglohnjobs nur selten ein Sprungbrett in besser bezahlte Beschäftigung darstellen.
Ein besonderes Augenmerk verdient die Arbeitsmarktsituation von Frauen. Sie arbeiten häufiger als früher, allerdings oft mit geringer Stundenzahl und in Tätigkeiten, für die sie überqualifiziert sind. Darüber hinaus zeigt sich, dass es zunehmend ein zweites gutes Arbeitseinkommen im Haushalt braucht, um zur Mittelschicht zu gehören. „Wollen wir die Mittelschicht stärken, sollten Umfang und Qualität der Jobs von Frauen verbessert werden. Dazu könnte auch eine kombinierte Reform von Minijobs und Ehegattensplitting einen großen Beitrag leisten“, sagt Consiglio. Auch müssten Berufe, in denen mehrheitlich Frauen tätig sind, wie zum Beispiel in der Pflege, besser entlohnt werden.
Zusatzinformationen
Die Studie „Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt“ vermisst die Mittelschicht im Zeitraum zwischen 1995 und 2018 sowie die Auswirkungen der Corona-Krise in den Jahren 2020/21. Zur Mittelschicht werden all jene gezählt, deren Einkommen nach Steuern und Transfers zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren äquivalenzgewichteten Einkommens liegt. So war für eine alleinstehende Person für einen Platz in der Mittelschicht im Jahr 2018 ein Monatseinkommen nach Steuern und Transfers von rund 1.500 bis 4.000 Euro nötig, für ein Paar mit zwei Kindern ein verfügbares Einkommen zwischen 3.000 und 8.000 Euro.
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