Corona-Krise zeigt: Mehr Radwege führen auch zu deutlich mehr Radverkehr

Wenn der Staat für eine klimafreundliche Verkehrswende in Infrastruktur investiert – führt das zu den erhofften Verhaltensänderungen oder ist das nur teure Symbolpolitik? Eine neue Studie geht dieser Frage, über die in Kommunalparlamenten oft erbittert gestritten wird, jetzt wissenschaftlich auf den Grund. Als Beispiel dienen die in der Corona-Pandemie angelegten „Pop-up-Radwege“, bei denen eine Fahrspur der Straße oder ein Parkstreifen provisorisch umgewidmet werden, etwa mit gelben Linien oder Baustellenbaken. Die Untersuchung wurde erstellt am Berliner Klimaforschungsinstitut MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change) und jetzt in der renommierten US-Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht.

Ausgangspunkt sind die Erhebungen von 736 amtlichen Fahrradzählstationen in 106 europäischen Städten sowie das Monitoring des Europäischen Radfahrerverbands zu den „Corona-Radwegen“. Natürlich ging es darum, den echten Wirkungszusammenhang herauszufiltern: „Es ist klar, dass viele Leute wegen Corona sowieso aufs Rad umsteigen, um nicht im vollen Bus zu sitzen“, sagt Sebastian Kraus, Politik-Analyst am MCC und Leitautor der Studie. „Aber wir zeigen, dass die neuen Radwege darüber hinaus in beträchtlichem Umfang zusätzlichen Radverkehr bewirkt haben.“ Ein Kilometer Pop-up-Radweg kostete etwa in Berlin nur 9.500 Euro. „Die Chance, hier mit wenig Aufwand den Verkehrsmittel-Mix erheblich zu beeinflussen, wird in vielen Städten zu Unrecht vernachlässigt.“

Die Studie vergleicht die Städte, die solche provisorischen Trassen ausgewiesen haben – im Schnitt waren es 11,5 Kilometer –, mit jenen, die das nicht tun. In Regressionsanalysen rechnet das Forschungsteam dann mögliche Störfaktoren heraus: etwa Unterschiede bei der Platzierung der Zählstationen, bei der Ausstattung mit Bus und Bahn, bei Bevölkerungsdichte, Neigung zu „grünem Lebensstil“, Topografie und Wetter. Am Ende steht das folgende, bewusst vorsichtig gefasste Fazit, das die statistische Unsicherheit berücksichtigt: Die Pop-up-Radwege bewirkten für sich genommen im Zeitraum März bis Juli 2020 zwischen 11 und 48 Prozent zusätzlichen Radverkehr.

Wie sehr sich die vermehrte Fahrradnutzung nicht nur auf das Klima, sondern auch lokal auswirkt, verdeutlicht die Studie mit Hilfe einer in der Forschungsliteratur gängigen Faustregel: Jeder geradelte Kilometer spart einen halben US-Dollar an Gesundheitskosten. Für diejenigen der 106 untersuchten Städte, die Pop-up-Radwege markiert haben, würde sich der Nutzen auf insgesamt mindestens eine Milliarde Dollar im Jahr addieren – sofern der Effekt auf die Rad-Nutzung dauerhaft ist.

„Ob dies der Fall ist und ob sich ein solcher Wirkungszusammenhang auch in Nicht-Pandemie-Zeiten ergibt, könnte Gegenstand weiterer Forschung sein“, sagt Nicolas Koch, Co-Autor der Studie und Leiter des Policy Evaluation Lab am MCC. „Es ist nicht zielführend, wenn man aufgrund fehlender Evidenz ideologische Grundsatzdebatten über städtische Verkehrsplanung und Klimapolitik führt – besser ist eine sauber gemachte Wirksamkeitsevaluierung.  Empirische Daten zu Mobilität und Gesundheit sind immer besser verfügbar, wir müssen sie nutzen, um herauszufinden welche Maßnahmen wirklich greifen.“

Weitere Informationen:

Kraus, S., Koch, N., 2021, Provisional COVID-19 infrastructure induces large, rapid increases in cycling, Proceedings of the National Academy of Sciences
https://www.pnas.org/content/118/15/e2024399118

Über Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) gGmbH

Das MCC erforscht nachhaltiges Wirtschaften sowie die Nutzung von Gemeinschaftsgütern wie globalen Umweltsystemen und sozialen Infrastrukturen vor dem Hintergrund des Klimawandels. Unsere sieben Arbeitsgruppen forschen zu den Themen Wirtschaftswachstum und -entwicklung, Ressourcen und Internationaler Handel, Städte und Infrastrukturen, Governance sowie wissenschaftliche Politikberatung. Das MCC ist eine gemeinsame Gründung der Stiftung Mercator und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).

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