Die Bedeutung von Gefühlen, Liebe, Sex und Partnerschaft nach Schlaganfall

Sexualität spielt, so könnte man meinen, nach einem Schlaganfall keine große Rolle (mehr). Doch ist bei vielen Betroffenen sogar das Gegenteil der Fall. „Entsprechende Statements von Menschen nach einem Schlaganfall zeigen, dass ihre Bedürfnisse in Bezug auf Partnerschaft und Miteinander, Liebe, Zärtlichkeiten und das Sexualleben sogar einen größeren Stellenwert einnehmen als vor dem Schlaganfall“, betont Lisa Spreitzer. Die Ergotherapeutin im DVE (Deutscher Verband Ergotherapie e.V.) hat sich auf ‚Sexualität bei Menschen nach einem Schlaganfall‘ spezialisiert. Bei ihrer Arbeit hat sie viele überraschende Erkenntnisse zu diesem Thema gewonnen.

Erleidet ein Mensch in Deutschland einen Schlaganfall, steht direkt ein Netzwerk aus verschiedenen medizinischen Disziplinen bereit, wozu unter anderem Ergotherapeuten gehören. Ihre Spezialität: Sich auf den Alltag der Betroffenen fokussieren, immer mit dem Blick auf das, was demjenigen in seinem Leben etwas bedeutet, was ihn antreibt, was zu seinem Lebensglück führt. Das ist bei jedem etwas anderes. Was jedoch bei allen Menschen gleichermaßen wichtig ist, ist das Bedürfnis nach Liebe, Geborgenheit, Zärtlichkeit und Sexualität.

Sexualität noch immer bei vielen ein Tabu

Da bilden Menschen nach einem Schlaganfall keine Ausnahme, unabhängig vom Alter, denn von einem Schlaganfall sind häufig auch junge Menschen betroffen. Ein Schlaganfall kommt aus heiterem Himmel und verändert das Leben Betroffener radikal – nichts ist mehr wie zuvor, auch bei denen, die einen leichteren Schlaganfall erleiden. Ihr Alltag und damit alle Aktivitäten und ebenso die gesamte Gefühlsebene sind zunächst komplett ausgehebelt. Die Ergotherapeutin Lisa Spreizer ist die Autorin der Broschüre ‚Liebe, Lust und Leidenschaft‘, die die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe kostenlos abgibt. Für diese Arbeit hat sie unterschiedlich schwer von einem Schlaganfall Betroffene befragt, die bereit waren, sich zum Thema Sex und Liebe nach dem Schlaganfall offen zu äußern. „Dadurch, dass wir diese Informationen an die Öffentlichkeit bringen, fühlen sich auch andere Betroffene verstanden und wissen, dass ihre Wünsche und Vorstellungen in Bezug auf ihr Liebesleben etwas Natürliches und sie damit nicht alleine sind“, ist sich die Ergotherapeutin sicher. Die Antworten der Befragten zeigen, dass Sexualität seit dem Schlaganfall eine sehr große Bedeutung hat; für manche sogar eine größere als zuvor. Und welche Erleichterung sie erlebten, als sie – meist zunächst durch Selbstbefriedigung – feststellen durften: Lust und Erregung sind da, die Erektion kommt zustande, wenigstens das funktioniert noch. Auch hatten die Befragten den Wunsch, dass der Partner oder die Partnerin gerade in der für sie so schwierigen Zeit für sie da sein sollte. Und zwar nicht nur, um die Versorgung und das pflegerisch Notwendige sicherzustellen. Vielmehr wollten sie sich gerade jetzt geliebt fühlen – auch körperliche Liebe erleben.

Kommunikation das A & O nach dem Schlaganfall

Meist sind beide Partner mit der neuen Situation überfordert, wissen nicht, wie sie nach dem Schlaganfall miteinander umgehen können. Über Gefühle oder – insbesondere die Liebe und sexuelle – Wünsche zu sprechen, fällt vielen schwer; es findet hierzu bei den wenigsten eine direkte, offene und ehrliche Kommunikation statt. Das Dilemma: die Denkmuster im Kopf. „Die Aussagen Betroffener und deren Partner belegen das“, bestätigt die Ergotherapeutin Spreitzer. „Frauen fühlen sich förmlich als ‚Sexmonster‘, wenn sie Lust auf ihren Partner haben. Sie denken zum Beispiel, der Mann sei durch den Schlaganfall nicht mehr in der Lage, hätte kein Verlangen nach Sex mit ihr oder es ginge ihm einfach zu schlecht, um sie und ihre Bedürfnisse zu befriedigen.“ Dabei wäre alles unkompliziert, wären Paare imstande, auch über Liebesangelegenheiten miteinander zu reden oder den anderen einfach zu fragen. Oft ist es so, dass der Mann trotz oder gerade wegen des Schlaganfalls durchaus gerne Nähe, Zuneigung, Liebe und Sex hätte. Es aber ebenso wenig ausspricht, wie die Partnerin, weil er sich ‚versehrt‘ oder nicht mehr so attraktiv findet wie vor dem Schlaganfall. Dass Betroffene sich dennoch und grundsätzlich öffnen können, erlebt Lisa Spreitzer in der ergotherapeutischen Praxis. Stellt sie Fragen zu den Gefühlen, bricht es häufig aus ihrem Gegenüber heraus, wenn Liebe, Zärtlichkeiten und Sex zu kurz oder gar nicht mehr in deren Alltag vorkommen.

Die Liebe wieder anbahnen

Mit viel Fingerspitzengefühl und eher anleitend als vorschlagend erarbeiten Ergotherapeuten wie Lisa Spreitzer mit ihren Patientinnen und Patienten, welche Möglichkeiten es gibt, um der Liebe, also auch der körperlichen Liebe, wieder den Weg zu ebnen. „Wir erarbeiten das gemeinsam, die Patienten und ich“, erklärt die Ergotherapeutin. Es ist eine typisch ergotherapeutische Herangehensweise, Impulse und Gedankenanstöße zu geben. So entstehen Raum und Gelegenheit, damit die Betroffenen für sich passende eigene Ideen entwickeln können. Darüber hinaus gibt es Aufgaben vom Ergotherapeuten, um das Miteinander wieder anzubahnen. So soll das Paar etwa einen festen, gemeinsamen Abend verabreden, wo es nur um das Paar-Sein geht: Darüber reden, was einen verbindet, was man am anderen mag und schätzt oder auch konstruktiv das anzusprechen, was einem nicht gefällt. Gemeinsam herauszufinden, welche Aktivitäten jetzt noch möglich sind, ist der nächste Schritt und je nach dem, wie schnell das Paar wieder zueinander findet, ist sowieso alles möglich und erlaubt.

Ergotherapeuten arbeiten auf psychischer…

Um das auch im Kopf der Patientinnen und Patienten dauerhaft und fest zu verankern, ist es nahezu immer notwendig, zuvor Ängste abzubauen. Ängste sind ein zentrales Thema bei Menschen, die einen Schlaganfall erlitten haben. Eine bei beiden Geschlechtern weit verbreitete Sorge ist, sexuelle Aktivitäten mit dem Partner oder mit sich selbst könnten den Blutdruck und das Herz-Kreislauf-System derart belasten, dass es zu einem erneuten Schlaganfall kommt. Das ist medizinisch nicht begründet und gehört daher zu den zu ersetzenden Denkmustern. Ein weiterer Bestandteil der ergotherapeutischen Arbeit ist die vertiefte Aufklärung zur Erkrankung. So erfahren Betroffene manchmal zu ihrem Erstaunen, dass Liebe und Sex sich sogar positiv auswirken, unter anderem auch deshalb, weil der Körper dabei Glückshormone ausschüttet.

…und auf körperlicher Ebene

Wer einen Schlaganfall erlitten hat, wird beim Ergotherapeuten so sehr mit sich, seinem Körper und seinen Empfindungen konfrontiert, wie nie zuvor. Im Laufe der ergotherapeutischen Intervention entsteht ein ganz anderes Körperbewusstsein. Ergotherapeuten verbessern unter anderem die durch den Schlaganfall verursachten Wahrnehmungsstörungen, leiten ihre Patientinnen und Patienten an, wie sie mit Reizen wie Vibration oder Berührung die vom Schlaganfall betroffenen Körperregionen allmählich reaktivieren können. Sie schulen die Wahrnehmung, fragen, wie sich das Empfinden verändert, wenn derjenige liegt, steht oder eine Unterstützungsfläche hat. Ergotherapeuten ermuntern die Betroffenen, zu experimentieren und selbst herauszufinden, was funktioniert. All das hat Auswirkungen auf den gesamten Alltag, sprich auch die ganze Bandbreite von Liebe, Sex und Zärtlichkeit.

Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeuten vor Ort; Ergotherapeuten in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche

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