„Christliche Sittenlehre“ und moderne Gesellschaft

Was Immanuel Kant für die Philosophie ist, ist Friedrich Schleiermacher (1768–1834) für die Theologie: In Theologie, aber auch in Philosophie, Pädagogik, Soziologie und in vielen anderen Disziplinen gehört er zu den bedeutendsten Autoren seiner Zeit. Die Vorlesung zur „Christlichen Sittenlehre“ ist eine seiner einflussreichsten Arbeiten. Hier entwickelt er die Idee einer deskriptiven Ethik, die das Verpflichtetsein des Menschen nicht normativ vorgibt, sondern beschreibt. Gleichzeitig verknüpft er in dieser Vorlesung Christentum und Gegenwartskultur und bietet damit ein Modell zur Selbstverortung der christlichen Religionsgemeinschaften in modernen Gesellschaften.

Wie viele andere Gelehrte seiner Zeit wirkte Schleiermacher vor allem durch seine Vorlesungen und weniger über Publikationen. Insgesamt zwölf Mal hielt er die „Christliche Sittenlehre“: zuerst 1806 an der Universität Halle, zuletzt 1831 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, an deren Gründung er maßgeblich mitgewirkt hat. Zu Lebzeiten konnte Schleiermacher seine Pläne zur Veröffentlichung der Vorlesung nicht mehr verwirklichen. Erhalten sind daher nur noch Fragmente: ein Kollegheft, Marginalien, Extra-Zettel, Notizen und weitere Anmerkungen, daneben aber sehr umfangreiche Konvolute von studentischen Mitschriften.

Bis heute liegt keine vollständige historisch-kritische Gesamtedition der Vorlesung vor. Ein neues von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit 2,8 Millionen Euro gefördertes Langzeitvorhaben unter der Leitung von Forschenden der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Sarah Schmidt), der Humboldt-Universität zu Berlin (Notger Slenczka), der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Jörg Dierken) und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Arnulf von Scheliha) wird diese Leerstelle in den nächsten zehn Jahren füllen. Die Gesamtedition setzt neue Impulse für die Forschung zu Schleiermacher sowie zur Theologie- und Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts und bündelt Expertisen der Schleiermacher-Forschung: Die Projektpartner haben bereits gemeinsam an der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers gearbeitet.

In Schleiermachers Nachlass an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften befinden sich wichtige Manuskripte und Nachschriften zur „Christlichen Sitte“, die im Rahmen des Projekts editiert und digitalisiert werden sollen. Die Vorlesungen werden im Sinne des Leitbildes Open Science der Akademie als Hybrid-Edition zur Verfügung gestellt: als frei zugängliche digitale Quellen auf der von der Akademie betriebenen elektronischen Plattform https://schleiermacher-digital.de/ und als gedruckte Bücher. Die Forschung zum Akademiemitglied Schleiermacher an der Akademie der Wissenschaften blickt auf eine lange Tradition zurück: Bereits seit 1979 wird der Briefwechsel Schleiermachers historisch-kritisch ediert sowie mehrere philosophische und theologische Vorlesungen wie die zur Dialektik, zur Hermeneutik und Ästhetik aber auch zur Kirchengeschichte und kirchlichen Statistik publiziert. Aktuell beschäftigt sich das Akademienvorhaben „Schleiermacher in Berlin 1808–1834. Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen“ mit der Edition von biographischen Quellen und ausgewählten Vorlesungen aus Schleiermachers Berliner Zeit.

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