Klimaneutralität: Sind wir bereit für eine ehrliche Debatte?

Der europäische Grüne Deal skizziert das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 als Wachstumsstrategie, bei der niemand auf der Strecke bleiben soll. Das gleicht einer Quadratur des Kreises. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob wir bereit sind für eine ehrliche demokratische Debatte über das Ziel der Klimaneutralität. Wir werden uns unbequeme Fragen stellen und unbequeme Realitäten anerkennen müssen. Findet eine solche Debatte nicht statt, bleibt Klimaneutralität weiter Gegenstand politischer Sonntagsreden, die Schönes versprechen, ohne jemandem wirklich wehtun zu müssen.

Wenn man mich fragen würde, welches Thema EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen seit ihrem Amtsantritt im Sommer 2019 am meisten propagiert hat, wäre meine Antwort, das Ziel der Klimaneutralität der EU bis 2050. Gegenüber diesem Ziel rücken die internationalen Handelskonflikte, die ungelöste Flüchtlingskrise, eine hohe Staatsverschuldung in vielen EU-Ländern, das Erstarken politischer Ränder oder der Brexit in den Hintergrund. Selbst die Corona-Pandemie kann kaum mithalten, obwohl die EU-Staaten zum ersten Mal vereinbart haben, gemeinsame Schulden aufzunehmen, um diese Krise zu bekämpfen. Immerhin soll ein erheblicher Teil der vorgesehenen Transfers in klimafreundliche Projekte fließen.

Politische Grundlage des Ziels der Klimaneutralität ist der europäische Grüne Deal von Dezember 2019. Darin heißt es: „Es handelt sich um eine neue Wachstumsstrategie, mit der die EU zu einer fairen und wohlhabenden Gesellschaft mit einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft werden soll, in der im Jahr 2050 keine Netto-Treibhausgasemissionen mehr freigesetzt werden und das Wirtschaftswachstum von der Ressourcennutzung abgekoppelt ist.“ Damit „niemand auf der Strecke bleibt“, plant die Kommission einen „Fonds für einen gerechten Übergang“.

Das liest sich sehr gut. Und ich finde es richtig, wenn die Politik ehrgeizige Ziele formuliert. Es kann aber einen Unterschied zwischen ehrgeizigen und realistischen Zielen geben. Bezüglich des Grünen Deals habe ich schön häufiger ausgeführt, dass Klimaneutralität in nur 30 Jahren mit den heute verfügbaren und politisch akzeptierten Technologien nicht erreichbar ist. Es gehört in den Bereich Wunschdenken, wenn man Klimaneutralität als Wachstumsstrategie verkaufen möchte. Vielleicht beschäftige ich mich schon zu lange mit den typischen Mustern der nationalen und internationalen Klimapolitik, die davon geprägt ist, dass anspruchsvolle Klimaschutzziele häufig deutlich verfehlt werden.

Die kommenden ein bis drei Jahre werden wohl die Jahre der Wahrheit. Es wird sich zeigen, ob wir bereit sind für eine ehrliche demokratische Debatte über das Ziel der Klimaneutralität. Wir werden uns unbequeme Fragen stellen und unbequeme Realitäten anerkennen müssen. Findet eine solche Debatte nicht statt, bleibt Klimaneutralität weiter Gegenstand politischer Sonntagsreden, die Schönes versprechen, ohne jemandem wirklich wehtun zu müssen.

Unbequeme Realitäten

Kommen wir zu einer unbequemen Realität: Der Energieverbrauch der Erde wird in den kommenden Jahren weiter steigen. Ein Bevölkerungszuwachs um 80 Mio. Menschen pro Jahr sowie das Streben nach materiellem Wohlstand sind wesentliche Treiber. Fossile Energien bleiben vorerst die wichtigste Säule. Selbst im aktuellen Sustainable-Development-Szenario (SDS) der Internationalen Energieagentur (IEA), das bereits deutlich anspruchsvollere Klimaschutzmaßnahmen umfasst als im Pariser Klimaschutzabkommen zugesagt wurde, wird der Anteil fossiler Energieträger am Primärenergieverbrauch im Jahr 2040 noch bei 56% liegen. Dies wäre gegenüber heute (80%) bereits ein massiver Rückgang. Erneuerbare Energien kommen im SDS auf 35%, wobei die kräftigsten Zuwächse bei Windkraft und Solarenergie erwartet werden. Die Erneuerbaren sind selbst in diesem optimistischen Szenario weit davon entfernt, die Hauptlast der globalen Energieversorgung tragen zu können.

Technologieoffenheit ernst meinen

Eine wesentliche Frage der kommenden Jahre wird sein, ob wir das Plädoyer für Technologieoffenheit ernst nehmen. Dazu muss man wohl zunächst anerkennen, dass alle Energieträger risikobehaftet sind und jeweils spezifische Vor- und Nachteile besitzen. Diese beziehen sich auf Wirtschaftlichkeit, Zuverlässigkeit bzw. Leistungsfähigkeit sowie Klima- und Umweltverträglichkeit, also die klassischen Dimensionen des energiepolitischen Zieldreiecks. Wichtig ist zudem die politische Akzeptanz von Technologien.

Hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit brauchen wir eine ehrliche Kostendebatte. Bei den zuverlässigen und leistungsfähigen fossilen Energien werden die externen Kosten nicht ausreichend internalisiert. Es bräuchte deutlich höhere CO2-Preise, als dies bislang der politische Konsens erlaubt. Bei Windkraft und Fotovoltaik ist es dagegen zu kurz gesprungen, nur auf die sinkenden Stromgestehungskosten zu achten. Mit einem steigenden Anteil an wetterabhängigen Energieformen braucht es nämlich z.B. mehr Investitionen in Netze und perspektivisch Stromspeicher. Es kommt häufiger zu kostenintensiven Netzeingriffen. Zudem sinkt die Kapazitätsauslastung bei anderen Kraftwerken (z.B. auf Basis von Erdgas), wenn mehr Windkraft und Fotovoltaik eingespeist werden. Diese Systemkosten des Ausbaus erneuerbarer Energien werden häufig vernachlässigt.

Bezüglich der politischen Akzeptanz ist die Kernenergie ein gutes Beispiel. Länder wie Deutschland steigen wegen fehlender politischer Akzeptanz aus der Kernenergie aus, obwohl diese sehr niedrige spezifische CO2-Emissionen aufweist. Dagegen bleibt die Kernenergie in Frankreich, den USA, China oder Japan auch künftig eine (wichtige) Säule im Stromsektor. Hier wird zudem die Forschung an der Kernenergie der nächsten Generation vorangetrieben. Die unterschiedliche Haltung zur Kernenergie zwischen Deutschland und Frankreich dürfte ein Grund sein, warum die Kernenergie im Grünen Deal der EU nicht mit einem Wort erwähnt wird.

Schlecht bestellt ist es in der EU auch um die politische Akzeptanz der CCSU-Technologie (Carbon Capture Storage and Usage, also das Abscheiden, Speichern und Nutzen von CO2). Laut IEA brauchen wir CCSU jedoch für Dekarbonisierungspfade. Auch der Grüne Deal sieht Investitionen in diesem Bereich vor, obwohl die politische Ablehnung zumindest von CCS in Ländern wie Deutschland sehr groß ist.

Die Ausführungen sind explizit kein Plädoyer für oder gegen eine der zuvor genannten Technologien. Wer aber befürchtet, dass große Teile der Erde durch den Klimawandel unbewohnbar werden und daher Klimaneutralität anstrebt, darf eigentlich keine Technologien a priori ablehnen, die dem Klimaschutz dienen, auch wenn diese risikobehaftet sind. Zu einer ehrlichen Debatte über Klimaneutralität gehören daher auch eine ideologiefreie Risikoabwägung verschiedener Energieträger sowie eine Analyse möglicher Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel.

Ohne ein gewisses Maß an Ökodiktatur wird es nicht gehen

Die Folgen der aktuellen Klimapolitik für den Alltag der Menschen sind noch relativ abstrakt und für die meisten privaten Haushalte erträglich. Wir bekommen Klimapolitik zwar in Form von höheren Steuern und Gebühren auf Energie zu spüren. Sie verteuert damit unsere Heizkosten oder unsere Mobilität. Im Gebäudebereich gibt es in manchen Ländern ordnungsrechtliche Anforderungen an die Energieeffizienz. Unser tägliches Handeln wird aber nicht von Klimapolitik dominiert. Für die Fragen, ob, wie viel und mit welchen Verkehrsmitteln wir reisen, wie groß unsere Wohnungen sind und wie wir diese beheizen, wie viele elektronische Konsumgüter wir besitzen und wie intensiv wir diese nutzen oder wie viel Fleisch und Südfrüchte wir essen, ist unser Einkommen und weniger die aktuelle Klimapolitik der bestimmende Faktor.

Für den Weg Richtung Klimaneutralität müsste an all diesen Lebensbereichen angesetzt werden, weil wir nicht über ausreichend viele kostengünstige Technologien verfügen, um unseren Lebensstandard CO2-frei beizubehalten. CO2-Preise müssten also massiv steigen, um eine Verhaltensänderung zu erwirken. Alternativ oder als Ergänzung bräuchte man kräftige ordnungspolitische Eingriffe. Ich weiß, Ökodiktatur ist ein böses Wort. Aber wir müssen uns wohl oder übel fragen, welches Maß an Ökodiktatur (Ordnungsrecht) wir für akzeptabel halten, um uns dem Ziel der Klimaneutralität zu nähern. Eine ganz praktische Frage illustriert das: Was machen wir, wenn Hauseigentümer ihre Häuser nicht in Nullemissionshäuser umwandeln wollen oder sie dafür die finanziellen Mittel nicht haben oder wenn dies technisch nicht möglich ist oder wenn sich das für den Eigentümer nicht rechnet?

Verlust an Wettbewerbsfähigkeit oder Einschnitte in Freihandel

Sollte die EU deutlich schneller Richtung Klimaneutralität marschieren als der Rest der Welt, führt dies in der EU zu schneller steigenden CO2-Preisen. Dadurch sinkt die Wettbewerbsfähigkeit z.B. von energieintensiven Unternehmen in der EU. Sind wir bereit, das in Kauf zu nehmen? Wohl nein, denn es soll ja niemand auf der Strecke bleiben. Oder wollen wir diese Unternehmen subventionieren, damit sie teure, aber klimafreundliche Technologien einsetzen können? Dauerhaft ist wohl auch diese Option nur schwer umzusetzen, denn angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen können wir nicht alles subventionieren, was dem Klimaschutz dient. Zu einer ehrlichen Debatte zählt, dass jeder Euro, der für Klimaschutz ausgegeben wird, nicht für Bildung, Forschung, das öffentliche Gesundheitssystem, digitale Infrastruktur, innere und äußere Sicherheit, Steuersenkungen oder höhere Renten eingesetzt werden kann. Die EU-Kommission will ein CO2-Grenzausgleichssystem vorschlagen, um die Wettbewerbsproblematik zu adressieren. Glauben wir wirklich, dass dies keine Gegenmaßnahmen der betroffenen Länder auslösen würde? Sind wir wirklich bereit, zugunsten des Klimaschutzes auf die Vorzüge des Freihandels zu verzichten?

Es wird massive politische Wiederstände geben 

Niemand soll auf dem Weg zur Klimaneutralität auf der Strecke bleiben. Vermutlich gleicht diese Aussage aus dem Grünen Deal am ehesten einer Quadratur des Kreises. Natürlich würde es Verlierer einer Klimapolitik geben, die sich dramatisch von der heute praktizierten unterscheiden müsste. Diese Verlierer würde es bei privaten Haushalten und bei Unternehmen geben. Es würde auch zu spürbaren Wohlfahrts- und Arbeitsplatzverlusten kommen. Wenn dies nicht der Fall wäre, wäre Klimaschutz ein leichtes Vorhaben. Und natürlich würde sich dies in der politischen Landschaft widerspiegeln, sowohl national als auch innerhalb der EU. Es wird Parteien geben, die gegen eine strenge Klimaschutzpolitik argumentieren, wenn diese zu stark steigenden Energiepreisen oder Engriffen in Wahlfreiheiten und Eigentumsrechte führte. Und machen wir uns nichts vor: Solche Parteien werden Zuspruch erfahren. Auch innerhalb der EU wird es erhebliche Verteilungskonflikte geben, die zu einer (weiteren) Spaltung der EU beitragen können. Halten wir eine solche politische Polarisierung aus? Oder werden wir unsere klimapolitischen Ambitionen wieder nach unten anpassen, sobald wir erkennen sollten, dass eine allzu strenge Klimapolitik demokratisch nicht mehrheitsfähig ist?

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