Zum Normalpreis dagegen ist der aktuelle Beitrag der Rubrik Fridays for Future zu kaufen. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Und dazu präsentiert EDITION digital in dieser Woche ein Buch von Hannes Hüttner. Hier aber erst einmal ein kurzer Blick auf die anderen vier Sonderangebote dieser Woche zum Sonderpreis:
Mit einem kulturhistorischem Kuriosum beschäftigt sich Ingrid Möller in „Das mecklenburgische Reutergeld von 1921“.
Siegfried Maaß erzählt in „Das Haus an der Milchstraße“ von der großen Hoffnung eines zwölfjährigen Jungen, der wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einer ostdeutschen Kleinstadt lebt – der Hoffnung auf die Rückkehr seines Vaters aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
„Begegnung im Schatten“ – so lautet der Titel des SF-Romans von Alexander Kröger über einen unerhörten Fund in einem Tagebau, über ein unerhörtes Experiment sowie über den immer bedenklicher werdenden Zustand der Gesellschaft.
In dem Kriminalroman „Rhön-Flirt“ geht es um einen grausamen Mord, fluchtartige Ermittlungen und eine überraschende Lösung sowie nicht zuletzt um die Rhön.
Und hier der aktuelle Fridays-for-Future-Titel:
Mit dem hübschen Untertitel „Eine utopische, aber streng wissenschaftliche Kriminalerzählung“ versehen, veröffentlichte Hannes Hüttner erstmals 1983 im Verlag Neues Leben Berlin „Grüne Tropfen für den Täter“: Von grüner Farbe ist das fantastische Elixier, das im „Institut für Langlebigkeit“ mit wissenschaftlicher Akribie entwickelt wurde und das lange Lebenszeit und ewige Jugend verheißt. Zumindest aber hat die grüne Flüssigkeit einen kosmetischen Effekt. Inspektorin Beate Schliwa fährt mit einer diffizilen Aufgabe in das berühmte Institut, dem ein Wohnheim für Hundertjährige angeschlossen ist. Sie soll herausfinden, welche der gerontologischen Fachrichtungen am erfolgversprechendsten ist. Ihre Untersuchungen werden jedoch durch ein aufrüttelndes Erlebnis unterbrochen, das überhaupt nichts mit einem Jungbrunnen zu tun hat. Der Biologe Professor Aggermann ist über Nacht um Jahrzehnte gealtert und steht unter Schockeinwirkung. Handelt es sich um einen Unfall, einen Selbstversuch oder einen Anschlag? Noch gibt es wenig Anhaltspunkte bei diesem Fall und anderen mysteriösen Ereignissen, aber irgendwie sind alle Vorfälle mit den grünen Tropfen verknüpft. Und hier die ersten beiden Kapitel des Buches:
„Siebzig Szenen, Aktennotizen und Kommentare zu den Vorfällen im Institut für Langlebigkeit
- Kapitel
Frauen als die unterdrückte Bevölkerungsmehrheit dieses Planeten neigen zu Übertreibungen. Ein Mann hätte gar nicht als Vorfall bezeichnet, was Beate Schliwa so beeindruckte: „Seltsames Geschehen bei Ankunft im Institut: Scharen von Hunden vor dem Tor, die das Haus geradezu belagerten. Vorfall ist zu klären. Unterkunft ordentlich.“
Ich sehe sie vor mir, diese Beate: ein zierliches Mädchen in verantwortlicher Position. Sensibel und allein. Wahrscheinlich kam sie an einem Herbstabend in Deggendorf, der Bahnstation, an, und der Städte-Express wird wieder nicht seine geplante Stundengeschwindigkeit von dreihundertfünfzig Kilometern erreicht haben. Jedenfalls klagten Reisende häufig, dass ihnen der letzte Bus nach Xantos weggefahren sei.
Ein später Abend also, der Ostwind hat den Himmel blank gewischt und sich danach zur Ruhe gelegt, der Sonne hinterher. Das zarte Rosa verblasst zu fahlem Silber. Die Bäume stehen schweigend und erwarten ergeben die Nacht.
Beate Schliwa schleppt ihren Handkoffer die Straße entlang, die Tragetasche mit dem Prüf- und Kontrollcomputer QNO 1, kurz Kuno genannt, über der Schulter. Ja, es sind nur vier Kilometer bis zum Institut, aber was man ihr nicht sagte, war, dass die Straße bergauf führt.
Es ist die Stunde, da die Natur dem Menschen fremd wird und ihre Lieblichkeit in Härte umschlägt. Beate Schliwa fällt ein, dass sie noch kein Mobil sah, seit sie losgelaufen ist, und es wächst in ihr die Überzeugung, dass sie eine ganz und gar verkehrte Richtung eingeschlagen hat. Sie stellt das Gepäck ab. Sie orientiert sich, großer Wagen, Polarstern, die Richtung stimmt, der Zweifel bleibt.
Sie hasst es zu reisen, doch sie mag noch weniger zu Hause bleiben, einsam in ihrer Zweizimmerwohnung, in der sie mit den Gegenständen spricht, mit der Seife, dem Handtuch, dem Spiegel. „Jetzt werden wir dich auf das Brot streichen“, sagt sie zur Marmelade, „und dann wirst du der Bea schmecken, mhm!“ Die Marmelade antwortet nicht. Sie lässt sich verschlucken und gibt es auf, Marmelade zu bleiben; so glaubt Bea manchmal, von der Einsamkeit verschlungen zu werden.
Nein, es ist besser, zu reisen. Sie ist als Inspektorin eines respektablen Ministeriums von dreißig Tagen zwanzig unterwegs, lernt Menschen kennen und hat Kuno an ihrer Seite. Ich denke fast, dass man sagen kann: Der Computer steht ihr nahe.
Sie schaltet ihn nach ihrem Sternenhimmelblick ein und bittet: „Sing was!“
Kuno räuspert sich und singt dann, wie die kleinen Kinder tun, die in Worte setzen, was sie eben sehen. „Der Mond geht auf!“, singt Kuno verhalten. „Der Wald steht schwarz und schweiget…“
Von manchen Mitarbeitern ist Kuno schon als schwer gestört zurückgebracht worden, wenn sie von einer Kontrollfahrt kamen. Kuno kann sich verweigern. Doch er liebt Beate Schliwa. Die Instruktionen besagen, dass den Geräten dreißig Minuten täglich zum freien Assoziieren einzuräumen sind, um ihr selbstlernendes System funktionsfähig zu halten, keinesfalls mehr, da sich sonst die inneren Verhaltensnormen ändern können. Der Beate Schliwa innewohnende Hang zur Gutmütigkeit lässt sie die Vorschriften häufig überschreiten. Kuno führt geradezu ein eigenes Leben. Obwohl er abends so erschöpft ist, dass er die ganze Nacht an der Steckdose verbringen muss, ist er voller Arbeitseifer und Anhänglichkeit. Sie sind ein Paar geworden.
Ein Windstoß zaust plötzlich die Baumwipfel, und Bea hört nicht hin, was Kuno singt. „Ein Hund kommt“, intoniert er, „ein großer schwarzer Hund, er rennt und rennt…“ Sie schreckt erst auf, als sie das Hecheln hört, sieht eine schwarze Dogge auf sich losspringen, weiß sich wehrlos, erinnert sich an den Hund ihrer Großmutter, schluckt und sagt mit zittrig-beruhigender Stimme: „Ein guter Hund, ein lieber Hund!“ Der gute Hund stellt ihr die Pfoten auf die Schulter, leckt ihr übers Gesicht und springt davon.
Der Schreck, dann die Erleichterung, die ja zugleich immer mit Scham verbunden ist, wie leicht wir uns ängstigen, lassen ihr die Knie weich werden. Sie hält noch einmal inne, dann folgt sie dem Linksbogen, den die Straße schlägt, die zum Gebäudekomplex des Institutes ansteigt. Der Bogen umfasst eine große Wiese, auf der sich im fahlen Licht des Mondes zahllose Hunde versammelt haben. Sie blicken zu den Labors hinüber. Manchmal heult einer auf, andere fallen ein, doch verstummen sie bald wieder.
Hier bleibt Beate Schliwa stehen, setzt Kuno ab und spricht: „Ich gehe keinen Schritt mehr!“ Aber sie geht dann doch. Denn unterhalb der Gebäude ist ein Licht aufgetaucht, die Hunde weichen, eine Gasse bildet sich, und sie läuft auf die Funzel zu, die sich als die Glühbirne einer Fahrradlampe erweist.
Der Mann, der das Fahrrad führt, ist lang aufgeschossen, von zutraulicher Art und sagt: „Ich wollte ihnen gerade entgegenfahren. Sie haben den Bus verpasst, wie?“
Die Schliwa verbeißt sich alle Entgegnungen, sie ist da, unter Hunden hat sie eine fühlende Seele getroffen, sie stellt ihren Koffer auf den Gepäckträger, und wir sehen beide einträchtig dahinwandern. Sie fragt nicht nach dem Grund der Hundeversammlung, sie will jetzt duschen und ins Bett, sie ist angekommen.
Erst am nächsten Tag meint sie, darin einen Vorfall sehen zu müssen, den sie in ihre Tagebuchkassette notiert.
[*] Kapitel
Das Institut erwacht anderntags wieder zum Leben. Die Fahrräder der einfachen Mitarbeiter stehen vor dem Tor, auf einem gesonderten Flecken parken die Elektromobile der Hauptabteilungsleiter und der Helikopter des Chefs. Die Versuchsreihen werden fortgeführt: In Meppensaums Abteilung füttert man die Chinchillas mit Möhren und Cholesterol und die Computer mit neuen Daten aus dem Leben der Hundertjährigen, die Tafel im genetischen Labor der Brandt bedeckt sich mit mathematischen Zeichen, denn ein junger Assistent verteidigt seine Entropiehypothese des Alterns infolge Störungen der DNS-Reduplikation, die neue Espressomaschine der Küche verbreitet einen Duft und Wohlbehagen unter den Sekretärinnen, die davor Schlange stehen, und im Stresslabor führen zwei Assistenten einen jungen Mann namens Alpha 7 zum Versuchssessel, schnallen ihn an und schalten die Anlage ein. Derweil sitzen die leitenden Herren und Damen bei ihrem Chef, Professor Kalmus, und besehen sich den Vogel, der da eingeflogen ist.
Frau Dr. Beate Schliwa erläutert, was alle wissen: Das Ministerium für Konzentration der Mittel prüft durch sie, die Inspektorin, ob die Effektivität der Forschung im Hause gesteigert werden kann. Aus Erfahrung kennt sie die Wirkung ihrer Worte und sucht sie durch Zurückhaltung im Auftreten, durch Freundlichkeit und beruhigenden Tonfall zu mildern. Doch auch mit dem größten Charme kann sie nicht die sachliche Frage verdrängen, die mit ihrer Ankunft aufgetaucht ist: Wessen Weg ist am erfolgreichsten? Auf welche Forschung soll man sich konzentrieren? Wer wird aufhören müssen?
Zunächst macht man sich miteinander bekannt. Die Wissenschaftsorganisatorin, Frau Lauterbach, stellt in ihrem russisch akzentuierten Deutsch die Struktur des Hauses dar. Professor Kalmus, dessen Glatze feine Schweißperlen bedecken, hält eine Rede, in der er beteuert, wie außerordentlich er sich freue, dass die Schliwa gerade zu ihnen ins Institut für Langlebigkeit gekommen sei, und dass er von ihr, wie auch immer ihr Besuch ausfallen werde, Hilfe und Unterstützung erwarte. Sie möge alles genau prüfen, jeder im Hause werde ihr kollegial zu Seite stehen… Und er sieht sich bei dieser Rede noch einmal am Sarg seines Onkels in der fernen Hauptstadt, jenes Vorstandsmitgliedes des Forschungskomitees, der ihn bisher vor solchen Besuchen geschützt hatte. Nach einer knappen Stunde bereits verabschieden sie sich alle im mäßig erhellten Gang vor dem Zimmer des Direktors. Fürs erste natürlich nur, denn nun wird die Schliwa ihre Arbeit aufnehmen. Da biegt Aggermann um die Ecke.
Es gibt einige, die behaupten, dass schon damals die Schliwa ein übergroßes Maß an Sympathie für jenen Mann gezeigt habe, eine spontane Zuneigung, die mit der Rolle, die ihr hier zufiel, einfach unvereinbar gewesen sei. Frau Dr. Olm, die Institutsärztin, wiederholte später mit einem gewissen Neid, auch Aggermann habe wie angewurzelt dagestanden, und es sei ihm seine Verschossenheit an der Nasenspitze anzusehen gewesen.
Es ist dies nichts weiter als die Eigenschaft aller Vergangenheit, mehr und mehr interpretierbar zu sein. Die Ungeheuerlichkeit einer Liebe auf den ersten Blick begegnet uns zu selten, als dass wir sie nicht herbeisehnen, und die Wurzeln dessen, was in der Zukunft allen sichtbar wird, verlegen wir so weit wie möglich in die Vergangenheit, um die Gesetzmäßigkeiten des Lebens zu beweisen, an die wir so gern glauben.
In Wahrheit geschieht zu jener Stunde nur, dass die Schliwa lacht und sagt: „Sie sind das!“ Anscheinend hat sie am Vorabend wohl eher den Pförtner in ihm vermutet. So erweist sich, dass die beiden sich kennen, diese Schliwa und dieser Professor Aggermann, Stellvertreter von Kalmus, der um die Ecke biegt und nun tut, als habe er sich einen falschen Termin eingetragen, ein schlechter Schauspieler, man sieht ihm an, dass er lügt, aber gerade seine Unbeholfenheit macht ihn sympathisch.
„Würdest du sie bitte noch ein wenig mit den Baulichkeiten unseres Hauses vertraut machen?“, fragt Kalmus und stiehlt ihm damit den Forschungsnachmittag, aber Aggermann nimmt das gleichmütiger hin als erwartet. Da beißt sich Kalmus auch schon auf die Lippen. Nie spontan sein, denkt er, was wird er ihr erzählen, dieser Feuerkopf, der den kürzesten Weg zum Erfolg, den Umweg, nicht kennt, der in letzter Zeit viel Scherereien macht, und er nimmt ihn noch einmal beiseite und spricht zu ihm als ein Vater mit freundlichem Gesicht. „Tu mir den Gefallen und lass die Stressforschung aus dem Spiel! Bitte vermeide alles, was nach Beeinflussung aussehen könnte!“
Es lächelt auch Aggermann. „Meinst du nicht, dass sie intelligent ist?“, fragt er.“
Erstmals 1994 erschien im Stock & Stein Verlag Schwerin „Das mecklenburgische Reutergeld von 1921. Ein kulturgeschichtliches Kuriosum“ von Ingrid Möller: Wer aufmerksam durch Schwerins Straßen geht, findet Hausinschriften, die Zeugnis ablegen von der wachsenden Mutlosigkeit. „Nicht verzagen, weiter wagen!“, heißt es noch 1920. „Wir sind im Dalas, das ist wahr, verkauft mit Haut und Haar“ am 11. Mai 1921. „Sechs Mark zwanzig kost‘ der Stein. Jetzt lass ich das Bauen sein.“ Unmut richtet sich gegen Behörden: „Gott schütz‘ dies Haus vor Blitz und Brand, vor Wohnungsamt und Bubenhand.“ „In dieser Zeit allgemeiner Verunsicherung hatte sich das Friedensnotgeld allmählich zu einem Unfug und zu einer Landplage ausgewachsen, die zum Himmel schreit.“ So jedenfalls charakterisiert Gustav Prange als Mitglied des Deutschen Notgeldsammler-Bundes die Situation und führt aus: „Jeder, der will, gibt so viel Notgeld heraus, als er für gut befindet, ganz gleich ob eine Millionenstadt oder ein Dorf von 400 Einwohnern, ob ein Unternehmen der Großindustrie, eine Klosettpapierfabrik (Gutscheine in vier Wertstufen!) oder sonst ein findiger Kolonialwarenhändler oder Gastwirt. Dazu jagt eine Ausgabe die andere. Alle möglichen Jubiläen und sonstigen Ereignisse müssen dazu herhalten, und all dieses Notgeld ist, wie die Offertbriefe (!) vieler Ausgabestellen an die Sammler besagen, nur unter dem unabweisbaren Zwange der Not entstanden. Obenzu vergrößern die Druckanstalten den Unfug, indem sie willkürliche Unterschiede auf den Scheinen schaffen (große und kleine Ziffern, mit und ohne Stern, Serienangaben, verschiedenartiges Papier, andere Farbabtönungen usw.) …“
Durchblättert man die Akten im Landeshauptarchiv Schwerin, so wird der Zorn des Sammlers verständlich. Verzweifelt kämpfen die Beamten des Mecklenburgischen Finanzministeriums gegen so viel unerlaubten Wildwuchs. Immer wieder kommt ihnen zu Ohren, dass ungenehmigte Serien in Umlauf sind oder die Auflagenhöhe überschritten wurde. Die Bürgermeister werden mit Strafverfolgung bedroht. Die aber reden sich raus: sie hielten sich für berechtigt, da der Druck solcher Scheine zur Selbstverwaltung gehöre und weniger Geldschein sei als vielmehr Gegenstand einer besonderen Sammlerleidenschaft. Nachträgliche Genehmigungen werden nicht erteilt. Vermahnungen nachdrücklich gegeben an Kleinstädte wie Goldberg, Grevesmühlen, Grabow, Crivitz. Der Sternberger Bürgermeister Max Kaupisch soll 100 000 Mark Strafe zahlen. Ständig wird das Reichsgesetzblatt zitiert und immer wieder ergeht die Bekanntmachung, dass ungenehmigter Notgelddruck verboten und strafbar sei. Ob genehmigt oder nicht – es war „die emissionsfreudigste Notgeldperiode in der bisherigen Geldgeschichte“ (Klaus Schreyer). Zur Rechtfertigung der Schwarzdrucke muss allerdings auch gesagt werden, dass offenbar ein wirklicher Mangel an Kleingeld bestand und dass jahrelang viele Anträge abschlägig entschieden wurden. Besonders eindringlich weisen die Fokker-Flugzeugwerke bereits 1917 darauf hin, dass sie sich außer Stande sehen, die Löhne auszuzahlen. Das Finanzministerium sträubt sich lange.
Abgebildet sind die Notgeldscheine von Bad Doberan, Crivitz, Goldberg, Gadebusch, Neukloster, Rehna, Schwaan, Sternberg, Tessin, Teterow, Warin, Wismar, Feldberg, Friedland, Fürstenberg, Mirow, Neubrandenburg, Neustrelitz, Schönberg, Stargard, Strelitz, Wesenberg, Woldegk, Boltenhagen, Dargun, Gnoien, Grabow, Güstrow, Krakow, Ludwigslust, Malchin, Malchow, Neuhaus (Ostseebad), Neukalen, Parchim, Penzlin, Plau, Ribnitz, Röbel, Schwerin, Stavenhagen, Waren, Warnemünde, Zarrentin, Alt-Gaarz (Ostseebad), Arendsee (Ostseebad), Brunshaupten (Ostseebad), Bützow, Graal, Ostseebad, Heiligendamm, Kröpelin, Laage, Müritz (Ostseebad), Neubukow, Nienhagen, Rostock, Wustrow, Boizenburg, Brüel, Dassow, Dömitz, Grevesmühlen, Hagenow, Klütz, Lübtheen, Lübz, Marlow, Sülze, Wittenburg. Hier ein Stück, in dem es um das Jahr 1921 geht und um die Frage, was eigentlich Fritz Reuter mit dem nach ihm benannten Geld zu tun hat:
„Das Jahr 1921 im Spiegel der „Mecklenburgischen Zeitung"
Die erste Ausgabe vom 3. Januar beginnt mit einem Leitartikel von Erwin Steinitzer, in dem die gescheiterten Hoffnungen des Vorjahres benannt und kommentiert werden:
„Die großen Welthandelsmächte, die siegreichen europäischen Länder und auch die meisten Neutralen hatten mit zuversichtlicher Hoffnung das Jahr 1920 begonnen. 1919 war noch eine Periode der Kriegsnachwehen, des Übergangs, der Rückbildung und Umgestaltung gewesen; das zweite Jahr nach der deutschen Katastrophe sollte einen tüchtigen Fortschritt in der Richtung zum Normalen bringen. War nicht die Welt entblößt und hungrig nach Waren aller Art? War nicht dort, wo der Krieg gewütet hatte, die Produktionsfähigkeit gründlich zerstört, sodass die Länder, die ihre produktiven Anlagen in Ordnung hatten oder rasch in Ordnung bringen konnten, über einen beträchtlichen Vorsprung verfügten. War nicht durch die raffinierte Brutalität des Versailler Vertrags Deutschlands Wettbewerb – der gefährlichste der Vorkriegszeit – ausgeschaltet? Das hatte freilich zur Folge, dass Deutschland auch als Abnehmer versagen musste.
Die ersten Monate des Jahres schienen diese Erwartungen zu erfüllen. Mitteleuropa war ein Trümmerhaufen und Osteuropa eine unzugängliche Wüste …“ Doch die Rechnung ging nicht auf, denn: „Es gab plötzlich zu viel Nahrungsmittel und Rohstoffe in der Welt. Nicht zu viel für den wirklichen Bedarf; denn Millionen von Menschen hungern, haben kein Bett, kein Hemd, kein ganzes Kleidungsstück. Aber diese Millionen Menschen sind leider – vom Weltmarktstandpunkt gesehen – durchaus zahlungsunfähig. Es gibt keine Einrichtung, die dem nordamerikanischen Farmer für die zahlungsunfähigen Hungrigen sein Getreide und für die zahlungsunfähigen Frierenden seine Baumwolle abkauft. Hätten wir eine solche Einrichtung, so wäre auch bei günstigeren Ernten von allem zu wenig da. Da sie fehlt, ist es zu viel. Folge: allgemeine Rohstoffabsatzkrise mit entsprechenden Preissenkungen. Weitere Folge: industrielle Absatzkrise in allen Ländern, in deren Gesamtwirtschaft die agrare Erzeugung eine hervorragende Rolle spielt … Was tun? Die Zahlungsunfähigen zahlungsfähig machen, die Lebensmittel und Rohstoffe denen geben, die sie dringend brauchen, aber nicht kaufen können? Die Sache ist schwierig, denn in der kapitalistischen Wirtschaft wird nichts verschenkt. Höchstens kreditiert. Wir sind in einer Ära der Kreditpläne …
Wir leben auf einer Insel, die freilich keine ,Insel der Seligen‘ ist … Unsere Wirtschaft und unsere Preise ‚reguliert‘ die Notenpresse. Und die einzige Störung dieser Regulierung, vor der man sich bei uns fürchtet, ist eine Besserung der Valuta.“…
Es überrascht der globale Aspekt dieser Analyse, und es bedrückt gleichzeitig, wie hochaktuell die Grundprobleme noch immer sind! Viele Überschriften in diesem Jahrgang könnten der heutigen Presse entnommen sein. Da ist die Rede von Gewalttaten, Ladendiebstählen, Schiebungen mit „Heeresgut“, Umsatzrückgang durch gesunkene Kaufkraft, Defizitwirtschaft der Eisenbahn, Erhöhung der Beamtenbesoldung, zunehmender Arbeitslosigkeit, „Erwerbslosen-Tumult im Landtag“, „Defizit der Reichspost“, „Die Steuerschraube wird noch mehr angezogen“, „Erhöhung der Eisenbahntarife“. Auch chauvinistische Töne fehlen nicht (,Soll die deutsche Bühne fremdländische Werke zur Darstellung bringen?‘). Trotz des verlorenen Krieges und der hohen Reparationskosten werden Engländer und Franzosen in dicken Leitartikeln heftig beschimpft, als ob so eine „Minderung der Kriegslasten“ zu erreichen sei.
Eine Regierungskrise hatte schon am 12. Januar zum Rücktritt der mecklenburgischen Regierung geführt. Im März war es schon wieder so weit. Die Wahlpropaganda rührt die Werbetrommel: „Wir sind in Gefahr! Da können nicht Unfertige, Worthelden, Lauthälse und Unvermögende das Steuer führen. Wer in Mecklenburg Ordnung schaffen will, wählt morgen diejenigen Parteien, die den Wiederaufbau vollbringen können, die in der Lage sind, ein Wiederaufbau-Ministerium zu stellen. Nicht Schlagworte, nur Taten können uns vorwärts bringen.“
In den Wahllisten stehen Deuschnationale und Deutsche Volkspartei an der Spitze; die Mehrheit aber bekommen die Sozialdemokraten. Nein, dieser März 1921 ist kein ruhiger Frühlingsmonat. Er ist voller Turbulenzen. „Deutschland unter der Folter. Die drei Städte besetzt“ (im Rheinland), „Verbot der Selbstschutzorganisationen“, „Rostocker Bank erhöht Dividende von 4-5 % auf 6 %“, „Abstimmung in Oberschlesien für Deutschland – Polen greifen zu den Waffen“ …
Und doch gibt es in dieser Zeit auch Träume, hochstrebende Träume! Man traut seinen Augen nicht: Am 31. März erscheint ein ausführlicher Bericht über eine geheim geführte Stadtverordnetensitzung, in der das „100-Millionen-Projekt eines Schweriner Rathauses“ beraten wurde. Ein 16-geschossiges Hochhaus sollte inmitten des Pfaffenteichs errichtet werden, kuppelbekrönt! Ein Bau, neben dem Dom und Schelfkirche wie Zwerge wirken – jedenfalls in der abgebildeten Entwurfszeichnung des Architekten Hans Stoffers. Gewiss scheiterte dieses „größte Projekt, das jemals die Stadt Schwerin beschäftigte“, nicht nur an dem Einspruch des Fährmanns, der dadurch sein Brot verloren hätte. Es war ein – wenn auch gigantischer – Aprilscherz! Ein anderer Plan, weniger spektakulär, aber nicht weniger originell, reifte etwa gleichzeitig heran und lag am 3. März fertig auf dem Tisch: der Plan zur Herausgabe der Reutergeldserie. (Und die war kein Aprilscherz!)
Die Vorgeschichte des Reutergeldes, das eigentlich kein Geld war
Die Überleitung von der „Mecklenburgischen Zeitung“ zum Reutergeld ergibt sich fast nahtlos. Beide Druckerzeugnisse nämlich wurden im gleichen Haus geplant und hergestellt, in der Bärensprungschen Hof-Buchdruckerei in der Arsenalstraße 12. (Das Gebäude steht noch). (Über die Geschichte der Bärensprungschen Hofbuchdruckerei siehe Jürgen Borchert, 150 Schweriner, Schwerin 1992 S. 14-15)
Es war der Prokurist Max Reinhold Wust, der einen Vorschlag machte, der wirklich als pfiffig bezeichnet werden kann: Möglichst alle mecklenburgischen Städte und Badeorte sollten eine Notgeldserie herausgeben, einheitlich in den Formaten, den Werten, in der grundsätzlichen Gestaltung und dadurch, dass auf den Rückseiten ein Zitat Fritz Reuters angebracht sei. Die Entwürfe sollten einheimische Künstler übernehmen, wobei zu berücksichtigen sei, dass die Motive eine Werbung für Mecklenburg sein sollten. Denn: nur 3 % sei als Geld in Umlauf zu bringen, während 97 % von vornherein als Sammelobjekt hergestellt werden. Seine Argumente: Dieses Druckerzeugnis sei „ein Mittel zur Linderung der Arbeitslosennot“, „eine Beschäftigungsmöglichkeit für Zeichner, Ätzer und Drucker“ und zusätzlich eine Fremdenverkehrsreklame, weil der Erlös dem Verkehrsverband zugutekommen solle. Vorgesehen waren 10-, 25- und 50-Pfennig-Scheine für zunächst 61 Orte, aus denen dann 70 wurden.
Der Plan hatte viel für sich. Das Finanzministerium stimmte zu. Einzelheiten wurden ausgehandelt. Zunächst wurde eine Reutergeldgesellschaft gebildet. Außer Wust selbst gehörten ihr an: der Schweriner Oberbürgermeister Weltzin, der Direktor des Verkehrsvereins Siegmann (Rostock), der Direktor des Schweriner Landesmuseums Dr. Walter Josephi und sein Kollege Dr. Reifferscheid als Kunstsachverständige.
Die Höhe der Auflage wurde auf 50 000 festgelegt. Die vollständige Serie sollte 70×3 = 210 Scheine, beidseitig bedruckt, also 420 Entwürfe umfassen. Grundsätzlich sollten die Aufträge nur an in Mecklenburg ansässige Künstler vergeben werden, und alle Entwürfe sollten – nach Prüfung durch die Kommission – dem Finanzministerium vorgelegt werden.
(Die Akten über diese Festlegungen liegen im Landeshauptarchiv.)
Was Fritz Reuter damit zu tun hat
Wenn Hans-Joachim Griephan behauptet hat, das mecklenburgische Reutergeld zähle „zu den größten Ehrungen für Fritz Reuter außerhalb des Literaturbetriebs“, so ist dem durchaus zuzustimmen. Sicher hätte es dem berühmtesten mecklenburgischen Schriftsteller gefallen, dass Zitate aus seinen Werken auf diese Weise zusätzliche Verbreitung fanden, hätte er in unserem Jahrhundert gelebt.
Die Idee, diese Zitate als einendes Band zu benutzen, spricht dafür, wie lebendig sein Erbe fünfundvierzig Jahre nach seinem Tod war, wie anwendbar seine Lebensweisheiten trotz des zeitlichen Abstands. Zitate, die ja immer aus dem Zusammenhang gerissen sind, geben nur dann einen Sinn, wenn sie Verallgemeinerungen darstellen, wenn sie in sich abgerundet sind oder wenn sie auf allgemein Bekanntes Bezug nehmen. So verwundert es nicht, dass es die populärsten Werke Reuters sind, denen sie entstammen. Voran stehen die „Läuschen un Rimels“, die Reuter im November 1853 im Selbstverlag herausgebracht hat und die sofort reißenden Absatz fanden. Bräsig und Hawermann aus „Ut mine Stromtid“ begegnen uns auch im Bilde wieder, und das allbekannte Eikbom-Lied ist „Hanne Nüte“ entnommen …
Es wäre kein Nachteil, wenn die Beschäftigung mit dem Reutergeld die Leser veranlassen würde, sich Reuters Werke einmal wieder hervorzuholen!
Dass Reuters Bildnis bei seiner Geburtsstadt Stavenhagen nicht ausgelassen wird, versteht sich von selbst. Auf die Vorderseite des 50-Pfennig-Scheins zeichnet Schütz den Profilkopf in einem Medaillon, das von Gestalten aus seinen Werken getragen und gestützt wird. Ebenfalls im Profil sitzt der Dichter auf dem 25-Pfennig-Schein grübelnd in seinem Lehnstuhl wie bei der Plastik von Wandschneider. Wer sich näher in die Lebensumstände Reuters versetzt fühlen möchte, der fahre nach Stavenhagen und gehe in das einstige Rathaus am Markt, wo der Dichter am 7. November 1810 als Sohn des damaligen Bürgermeisters geboren wurde. Heute ist es Museum. Ebenso wie sein späteres Wohnhaus in Eisenach, wo er am 12. Juli 1876 starb. Eine Gedenkstätte wurde ihm auch auf der Festung Dömitz errichtet.“
Erstmals 1980 veröffentlichte Klaus Möckel im damaligen Gewerkschaftsverlag Tribüne Verlag sein Buch „Tischlein deck dich! Alte Märchen – neu verputzt“: Als der Autor sich seinerzeit daran machte, altbekannte Märchen mit List und etwas Tücke für die Gegenwart herzurichten, unterschieden sich, wie man vielleicht noch weiß, die Verhältnisse in einem Teil Deutschlands erheblich von den derzeitigen. Wer hat es heutzutage noch mit LPG-Bauern, einem VEB Holzkohle, einem Auto namens Shiguli zu tun? Die Kombinatsleiter sind Manager geworden, die Werktätigen Arbeitnehmer. Die Planwirtschaft, die damals alles beherrschte, hat sich erledigt, aber der Euro, der nun alles beherrscht, braucht einen Rettungsschirm. „Wie viele Märchen bekommt man heute erzählt, bei denen von vornherein klar ist: Sie werden nicht die Jahrhunderte überdauern“, schrieb Möckel in seinem Buch. Wer will behaupten, dass dieser Satz nicht mehr gilt? Auch wenn einiges heutzutage nicht mehr zutrifft – anderes beunruhigt uns umso mehr. Der Vergleich zwischen früher und jetzt, den der Leser beim Blättern in „Tischlein deck dich!“, „Rotkäppchen“, dem „Froschkönig“, „Hans im Glück“ und all den anderen Märchen immer wieder verwundert zieht, regt zum Schmunzeln und Nachdenken an. Zu alldem aber wird uns in diesem heiter-bissigen Büchlein auf kurzweilige Art der Spiegel vor Augen gehalten. Und so geht es los:
„Zur Bastelei an alten Märchen
Die in diesem Bändchen vereinigten, speziell gewürzten Märchen sind – wie schon aus ihren Titeln hervorgeht – keineswegs erfunden. Wer kennt nicht „Rotkäppchen“, „Frau Holle“ oder „Die Prinzessin auf der Erbse“, wer hat nicht von Grimm, Andersen, Bechstein gehört, deren Sammlungen heute genauso bekannt sind wie zu ihrer Zeit vor anderthalb Jahrhunderten. Märchen sind Kulturgut, sie werden von Generation zu Generation weitergegeben, und so unwahrscheinlich die Schicksale ihrer Helden sind, sie sagen doch vieles über die Träume und Hoffnungen der Menschen aus. Märchen sind auf ihre Weise wahr, es ist, als ob der Staub der Jahrhunderte an ihnen nicht haften bliebe. Dennoch habe ich mir angemaßt – nicht als Erster übrigens -, an einigen von ihnen herumzubasteln, an sehr wenigen, denn ihre Zahl ist Legion. Zu diesem höchst eigenmächtigen Vorgehen seien mir zwei Worte gestattet.
Zunächst – die Märchen in der vorliegenden Fassung sind für Erwachsene gedacht, für schaffende Menschen gewissermaßen, die mit beiden Beinen fest im Alltag stehen. Ihnen kann natürlich nicht passieren, was den Helden jener vergangenen Zeiten widerfuhr, sie richten ihre Blicke ja auf die Gegenwart, weshalb sich denn auch das Gegenwärtige in den Geschichten wiederfinden soll. Dabei dürfen freilich die Fantasie, das Abenteuerliche und Vergnügliche der alten Märchen nicht verloren gehen. Ebenso wenig wie ihr kritischer Geist, jene geheime Ironie, die sich von jeher gegen Bosheit und Schlamperei richtete. Die Klugen und Guten zu belohnen, die Niederträchtigen zu bestrafen war schon immer Sinn der Märchen. Das sollte auch heute so bleiben, wo die Könige nicht mehr bestimmen, uns aber Schluderei, Faulheit, Überheblichkeit und Eigennutz noch so manchen Streich spielen.
Hält man sich an diese Überlegung, dann lohnt es sich schon, die neue Zeit mithilfe der alten Märchen ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Was würde den uns lieb gewordenen Gestalten heutigentags geschehen, was passieren, wenn ein großsprecherischer Schneider einem Riesen begegnete, ein Schreinergeselle ein Tischleindeckdich bekäme, ein Bauer einen hinterhältigen Geist in der Flasche fände? Was würden die Gänse vom Fuchs erbitten, wenn sie ihr Leben etwas verlängern wollten, was der Werkleiter unternehmen, um ein gefräßiges Gespenst in seinem Betrieb loszuwerden? Die Heirat mit einer Prinzessin war für einen armen Burschen vor tausend Jahren gewiss ein Wunschtraum – wäre sie es für unsere jungen Männer auch noch? Man sieht, auf diese komplizierten Fragen erhielte man nie eine Antwort, gelänge es nicht, die Märchenfiguren umzumodeln und in die Gegenwart zu holen.
Das sind die Gründe, weshalb ich den „Fischer un syne Frau“ in eine Landschaft mit Fischverarbeitungskombinat und die „Zwölf mit der Post“ in die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts versetzt habe. Sie sollen uns mit ihrem Witz und ihrer Geradheit auf ein paar Flecken aufmerksam machen, die absolut nicht zu unseren schönen Lederjacken passen. Zu den adretten Gärten unserer Wochenendhäuser. Dabei hoffe ich, dass sich dem Leser ein Geringes von jener Freude mitteilt, die gewiss schon unsere Vorfahren beim Anhören von Märchen hatten. Das leider noch nicht verbriefte Recht des Werktätigen auf Erheiterung scheint mir nach wie vor des Einsatzes wert.
Berlin, im Juli 1979 Klaus Möckel
Warum nur lesen sich manche neuen Romane nicht halb so amüsant wie die alten Märchen, obwohl sie doch den gleichen positiven Helden haben, der die schrecklichsten Hindernisse überwindet und am Ende der angebeteten Prinzessin glücklich in die Arme fällt?
In unserer Zeit würde sich die Prinzessin auf der Erbse nicht mehr mit Jammern begnügen. Sie würde sich drei Wochen krankschreiben lassen.
Die Menschen können von Glück reden, dass ich keine Geschichten schreibe, sagte der Wolf, als er im Märchenbuch las.
Tischlein deck dich!
Vor Zeiten lebte ein Mann, der drei Söhne hatte und nur eine Benzinkutsche. Die aber war sein liebstes Gut, und er behandelte sie besser als seine Frau. An einem Wochenende sprach er zu seinem ältesten Sohn: „Putz mir den Skoda, und zwar so, dass ich kein Fleckchen mehr dran sehe.“
Der Sohn ging auch, obgleich etwas murrend, hinaus und reinigte das Auto nach allen Regeln der Kunst. Zum Schluss fragte er: „Na, Wägelchen, bist du schön sauber?“
Das Auto erwiderte: „Besten Dank,
War selten so blank, hepp, hepp!“
Da glaubte der Bursche seine Arbeit getan. Als sich der Vater jedoch ein paar Stunden später am Anblick des frisch gewaschenen Wagens laben wollte und fragte: „Nun, liebes Auto, bist du gut geputzt?“, antwortete der Skoda:
„Du musst doch krank sein,
Wie sollt ich denn blank sein,
Mal drübergewischt
Und weiter nischt!“
„Was muss ich hören!“, rief der Vater, der sofort hundert Streifen und Flecke im Lack zu entdecken glaubte, ging ins Haus und schimpfte mit dem Burschen. Und weil der mit gleicher Münze zurückzahlte, zankten sie sich so sehr, dass der Junge wenige Tage später die Familie verließ und sich in der nächsten Stadt Arbeit und ein Dach überm Kopf suchte.
Vierzehn Tage später war der zweite Sohn mit Autowaschen dran, und es gab dasselbe Theater.
„Besten Dank,
War selten so blank, hepp, hepp!“,
rief der Skoda, und später, als Antwort auf des Vaters Frage:
„Du musst doch krank sein,
Wie sollt ich denn blank sein,
Mal drübergewischt
Und weiter nischt!“
Da kam es denn zum Streit zwischen dem Vater und dem zweiten Sohn, und auch dieser verließ das Haus. Als das Gleiche schließlich noch mit dem dritten Sohn passiert war und die Frau dem Mann Tyrannei und Affenliebe zu einem toten Gegenstand vorwarf, der ihm mehr bedeute als die Kinder, wurde der Vater stutzig und wusch den Wagen selbst.
„Besten Dank,
War selten so blank, hepp, hepp!“,
sagte der Skoda zunächst, eine Stunde später aber schrie er:
„Du musst doch krank sein,
Wie sollt ich denn blank sein …“
Da erfasste den Mann die kalte Wut, und er gab dem Auto einen gewaltigen Tritt. Dabei brach er sich den großen Zeh, aber das war wirklich nur eine geringe Strafe für seinen Starrsinn und seine Dummheit.
Nun hätte der Vater gern seine Söhne zurückgerufen, doch er wusste ihre Adressen nicht. Es blieb ihm deshalb nichts anderes übrig als abzuwarten. So vergingen einige Jahre. Eines Tages jedoch kündigte der Älteste seine Rückkehr an. Er hatte in einem Textilkombinat gearbeitet und würde, wie er schrieb, eine einzigartige Neuentwicklung mitbringen. Aber dazu kam es nicht, die Umstände hatten sich gegen ihn verschworen. Es handelte sich bei der Erfindung um ein Spezitexgewebe, das, wenn man es über einen Tisch breitete und „Tischlein, deck dich!“ rief, umgehend die schönsten Speisen und Getränke herbeizauberte. Mit diesem Tuch hätte der Bursche zu Hause durchaus Ehre eingelegt, wäre er nicht am Abend vor seiner Abreise noch im Restaurant „Weinkeller“ eingekehrt. Dort wollte man ihm nämlich eine halbe Stunde vor Küchenschluss nichts mehr zu essen geben, und da half er sich kurzerhand mit der Tischdecke aus. Der Objektleiter, der das mitbekam, witterte eine große Chance für sich. Nie mehr würde er seinen Gästen Kochfleisch als Rinderfilet unterjubeln und zerkleinertes Schnitzel als Schweinelendchen servieren müssen, wenn er einen Hunderter für die eigene Tasche erwirtschaften wollte. Ein Tischtuch, das dem Zauberding zum Verwechseln ähnlich sah, hatte er im Wäscheschrank. Die beiden Stücke auszutauschen, als der Bursche einmal zur Toilette ging, war für ihn ein Kinderspiel. So kam es, dass der älteste Sohn zwar mit einem Tüchlein zum Vater zurückkehrte, sich aber ganz schrecklich blamierte, als er sein Kunststück vorführen wollte.
Der zweite Sohn hatte in einem Fahrradwerk gearbeitet und wollte nun gleichfalls nach Hause. Auch er hatte eine Neuentwicklung im Besitz, einen schicken Drahtesel. Wenn man dem ein „Esel, streck dich!“ zurief und dazu die Klingel betätigte, sprangen die Zehnmarkstücke nur so auf dem Asphalt herum. Wollte man’s nicht so auffällig machen, konnte man auch Fünfzigmarkscheine aus der Lenkstange ziehen.
Das Unglück brachte es mit sich, dass der Bursche am Abend vor seiner Abreise dieselbe HO-Gaststätte aufsuchte wie sein Bruder. Er dachte, sich für die letzte Nacht noch eine flotte Puppe zu angeln. Das gelang ihm nicht – er schaffte es nur, sich sinnlos zu betrinken. Auch hatte er, als es ans Bezahlen ging, nicht genügend Scheine in der Brieftasche. Doch dem ließ sich ja abhelfen. Er wankte zu seinem Rad, das er vorsichtshalber doppelt angeschlossen hatte, und brabbelte seinen Zauberspruch. Donnerwetter, sagte sich der Objektleiter, der ihm vor die Tür gefolgt war, da brauchtest du ja nie mehr „Auslese“ für sowjetischen Kognak auszugeben, nie Orangenjuice mit Wasser zu verdünnen. Gedacht, getan – während der andere an der Bar einen letzten Whisky pur kippte, vertauschte er das Rad mitsamt dem Ständer, an dem es hing. Und geprellt wie sein Bruder kam der Bursche zu Hause an.
Endlich meldete auch der dritte Sohn seine Heimkehr an, und die beiden älteren konnten nur noch eins tun: ihn vor dem betrügerischen Gaststättenleiter warnen. Denn dass sie im „Weinkeller“ geprellt worden waren, hatten sie inzwischen begriffen. Klar, dass der Jüngste sich dorthin aufmachte, als er das Telegramm der Brüder erhielt. Er hatte in einem Werk gearbeitet, wo Haushaltgeräte aus Plast hergestellt wurden, und nannte wie die anderen eine Neuheit sein eigen. Einen Fleischklopfer, der die Eigenschaft besaß, auf den Ruf „Knüppel, aus dem Sack!“ jegliches Fleisch zu bearbeiten, das ihm zugewiesen wurde. In der verdächtigen Gaststätte angelangt, bestellte der Bursche den besten Sekt und legte den Fleischklopfer, der hübsch rot und weiß gestreift war, so auffällig wie möglich vor sich auf den Tisch. Der Objektleiter, der sich mittlerweile an Gäste mit Wunderdingen gewöhnt hatte, trat auch gleich hinzu. „Sie haben da wohl einen kleinen Zauberstab, junger Freund?“, sagte er scherzend.
„Ganz recht, einen Zauberstab!“
„So, und was stellt man mit ihm an?“
„Das wirst du gleich sehen, Spitzbube!“, rief der Bursche, der sich nicht länger zurückhalten konnte, „Knüppel, aus dem Sack!“
Da sprang der Klopfer vom Tisch und machte sich vor den erstaunten Gästen und Serviererinnen über den Objektleiter her, dass der nicht mehr wusste, wo unten und oben war. „Was soll das heißen, was hab ich dir getan?“, schrie der Geprügelte. „Ruf ihn zurück, er wird mich noch umbringen!“
„Erst wenn du herausrückst, was du meinen Brüdern gestohlen hast – du weißt Bescheid.“
„Alles geb ich zurück, alles!“ Der Bursche rief den Klopfer zurück; der Objektleiter, braun und blau geschlagen, holte Tuch und Drahtesel und händigte beides dem Gesellen aus. Auch bat er die Gäste, die sich einmischen wollten, händeringend, nicht nach der Polizei zu telefonieren.
„Das lass dir eine Lehre sein“, sagte der Bursche und brachte die drei Wunderdinge am nächsten Tag seinen Brüdern und Eltern. Die sich freilich nicht lange daran erfreuen konnten – wie oft bei solchen Neuentwicklungen, stellten sich bald ernsthafte Mängel ein. Das Tuch servierte nur noch Abfälle, das Fahrrad produzierte Schuldscheine, der Klopfer wandte sich gegen den eigenen Herrn. Ein Glück, denn sonst wäre der älteste Sohn womöglich noch ein Vielfraß, der mittlere ein Falschmünzer und der jüngste ein Radaubruder geworden.“
Erstmals 2008 brachte brachte der Dorise-Verlag in Burg „Das Haus an der Milchstraße“ von Siegfried Maaß heraus. Das Buch erschien mit freundlicher Unterstützung der Volksbank Börde-Bernburg: Wenige Jahre nach dem Ende des letzten großen Krieges in einer ostdeutschen Kleinstadt. Steffens Vater befindet sich noch immer in sowjetischer Gefangenschaft, und der Zwölfjährige hofft täglich auf die Nachricht von dessen Heimkehr. Inzwischen hat sich ein Fremder bei ihnen breit gemacht und zwingt ihm ein ungewohntes Leben auf. Seine Mutter ist schwanger. Zunächst freut er sich. Das Neugeborene empfängt er feierlich mit einer Girlande. Aber bald spürt er, dass die halbe Schwester seiner Mutter scheinbar mehr bedeutet als er. Neid und Eifersucht beherrschen ihn und treiben ihn in seine Höhle. Auf der Flucht vor dem erdrückenden Alltag findet er in Fede einen wahren Freund. Schließlich begegnet er Susi, die im Laden ihres Vaters Milch verkauft. Umso bereitwilliger geht er nun seine Milchstraße entlang, um sich von ihr bedienen zu lassen. Eines Tages dann steht der Vater vor der Tür. Neue Konflikte kündigen sich an, die ihn herausfordern und in der Welt der Erwachsenen ankommen lassen. Hier ein aufschlussreicher Ausschnitt aus dem Buch:
„Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als ich ihn zum ersten Mal sah. Zu allererst aber roch ich ihn, denn kaum hatte ich unsere Tür geöffnet, als mir Zigarettenqualm in die Nase stieg. Er kräuselte in die Höhe und erstarrte dort zu einer luftigen Säule, die anscheinend unsere Lampe stützte. Dann erkannte ich den kleinen und pummeligen Mann mit seinem Kugelbauch, der mir lächelnd zunickte und zugleich eine weitere Rauchsäule in die Luft blies. Meine Mutter saß ihm am Tisch gegenüber und „schnupperte“ gierig, als habe sie niemals behauptet, dass Rauchen eine unangenehme Gewohnheit sei und sie den Qualm nicht vertrage.
Etwas verlegen stellte sie ihn mir vor, nannte Namen und Beruf und dass er aus der Großstadt komme und in unserer kleinen Stadt „beruflich zu tun habe“. So gewählt drückte sie sich aus, statt einfach zu sagen, dass er in Brückstedt arbeiten würde.
Wie sie mir später berichtete, hätte ich ihn darauf gemustert wie einen Gegenstand, der zum Kauf angeboten wurde. Kein Wort sei über meine Lippen gekommen und weiterhin wortlos wäre ich nach der eingehenden Musterung in unserer Küche verschwunden. Laut war darauf die Tür zugefallen. Das jedenfalls wusste ich selbst.
Auch was dann geschah, ist mir in deutlicher Erinnerung geblieben: Ohne meine Schulmappe ging ich Augenblicke später wieder zu den beiden hinaus und fragte meine Mutter: „Haben wir heute wieder keine Post aus Russland?“ Meiner Mutters Gesicht tauchte in tiefes Rot und ihr Blick schien mich wie ein spitzer Pfeil aufspießen zu wollen. „Nein!“ Das Wort quälte sich aus ihrem Mund und der dicke fremde Mann fingerte eine neue Zigarette aus der Packung. Erst jetzt fiel mir auf, dass darauf ein Kamel abgebildet war. Auch die Flasche, die vor ihnen auf dem Tisch stand, war nicht bei Hesse oder im Konsum gekauft worden. Irgendwie verströmte schon ihr Aussehen einen Hauch von weiter Welt.
„Warum schreibt er denn nicht? Kommt er nicht endlich nach Hause? Der Onkel von Manfred, das ist der Junge vom Bäcker, du weißt doch, der kleine Dicke, der immer so schwammig aussieht, sagst du ja selbst, den du nicht leiden kannst, weil du Dicke nicht ausstehen kannst, der Onkel ist vorige Woche aus Russland gekommen. Manfred sagt, sein Onkel meint, bald würden auch die Letzten zu Hause sein …“
„Was soll das, Steffen … Wir haben Besuch …“
Ich ging um den Tisch herum und blieb hinter dem Mann stehen. Meine Finger krampften sich um die wulstige Stuhllehne, sodass die blauen Adern sich wie Spuren kennzeichneten.
„Du sollst ihn nicht vergessen!“
„Ich vergesse ihn doch nicht. Wie kommst du denn darauf.“ „Dann soll er gehen!“ Ich wies mit der Kinnspitze auf den Mann unmittelbar vor mir. „Außerdem stinkt er nach Zigarette. Das kannst du doch nicht leiden.“
Ich hoffte, der Mann würde jetzt aufstehen und nach seiner Aktentasche greifen, die neben der Tür stand. Stattdessen schnippte er die Asche mit dem Finger auf den Teller, den meine Mutter bereitgestellt hatte. Einen Aschenbecher besaßen wir damals nicht.
Die Blicke meiner Mutter wechselten in schneller Folge von mir zu ihm und blieben endlich auf mir haften.
„Franz ist mein Besuch. Wir verstehen uns gut. Ich muss dich nicht erst um Erlaubnis bitten …“
Mehr bekam ich nicht mit, weil ich hinausrannte und die Tür hinter mir zuwarf. Waldi und den beiden Frauen muss der Krach wie ein Donnerschlag vorgekommen sein.
Es regnete, aber ich konnte mich nicht im Haus unterstellen. Bestimmt hätte mich meine Mutter dann schnell gefunden oder ein anderer Hausbewohner mich entdeckt. Wohin sollte ich?
Im Keller waren alle Türen verschlossen. Dort gehörte uns im größten Raum eine Ecke für Kohlen und Kartoffeln. Um aber dorthin zu kommen, brauchte ich den Schlüssel. Der hing jedoch, von unseren Vermietern gut bewacht, im Flur neben der Küchentür.
Ich lief auf den Hof, stieg über die Mauer und schlich geduckt in die schmale Gasse. Den Schlüssel für die Aschengrube trug ich immer bei mir, als wäre er mein Talisman. Schnell kroch ich hinein und war vor dem Regen geschützt. Lautlos zog ich die eiserne Klappe hinter mir zu.
Ich warf mich auf die Matratze. Sie war feucht und roch nach altem Seegras. Aber ich war fest entschlossen, erst wieder hinaufzugehen, nachdem der dicke Räuchermann das Haus verlassen hatte. Aber leider konnte ich es nicht sehen, denn von meiner Höhle aus hatte ich keinen Einblick auf die Vorderseite und die Haustür. Die alte Decke, in die ich mich wickelte, wärmte mich zwar, aber es war später Herbst und bereits sehr kühl. Ich wusste nicht, ob ich es in meiner Höhle lange aushalten würde. Außerdem knurrte mir der Magen. Wenn ich sonst aus der Schule nach Hause gekommen war, hatte meine Mutter das Mittagessen fertig und der Tisch war gedeckt. Aber wegen des Räuchermannes mit Namen Franz hatte sie es dieses Mal anscheinend vergessen. War ich plötzlich nicht mehr wichtig für sie?
Am Sonntagmorgen fuhr der Vater oft mit ihm entweder in den Stadtpark oder bei besonders schönem Wetter hinunter an den großen Strom. Dafür zog der Vater jedes Mal seine merkwürdige Hose an, die unter jedem Knie einen Bund hatte, sodass die Hosenbeine nun wie zwei Kaffeewärmer aussahen. Dann klatschte der Junge vor Vergnügen in die Hände und freute sich auf das bevorstehende Abenteuer.
Einmal aber hatte die Mutter einen Picknickkorb gepackt, ihn auf den Gepäckständer ihres neuen Fahrrads geschnallt und gesagt: „Heute ist Familientag. Da fahren wir alle gemeinsam.“
Wie ein Sieger reckte der Junge die Arme und rief: „Hurra! Familientag!“ und ließ sich vom Vater auf den Sattel heben, der auf der Stange des alten Herrenrades befestigt war. Sie beide fuhren voraus. Erst holprige Straßen entlang, die ihm wie felsige Schluchten erschienen, dann über glatte Fahrradwege und endlich erreichten sie den Stadtpark mit seinen hohen Bäumen und schattigen Wiesen. Hier ließ es sich Luft holen. Manchmal hatte die Mutter hinter ihnen übermütig die schrille Klingel ihres neuen Fahrrads läuten lassen und gerufen: „Gleich hole ich euch ein!“ Aber das hatte der Junge nicht zugelassen und seinen Vater angetrieben, damit er noch schneller in die Pedalen trat. Wenn er selbst erst einmal groß sein würde, wollte er der schnellste Rennfahrer werden.
Am großen Spielplatz stellten sie die Fahrräder ab. Wie zwei Menschen, die sich lieb haben, lehnten sie gemeinsam an einem Baum. Die Mutter entnahm ihrem Korb eine bunte Decke und breitete sie auf der Wiese aus. Fröhlich summte sie vor sich hin. Dann bereitete sie alles zum Picknick vor, und obwohl noch gar nicht viel Zeit seit dem Frühstück vergangen war, spürte der Junge bereits großen Hunger. „Wie ein Wolf?“, fragte der Vater und nachdem der Junge zugestimmt hatte, sagte er zu seiner Frau: „Dann hast du es jetzt mit zwei hungrigen Wölfen zu tun!“
Danach liefen Vater und Sohn zu der großen Schaukel, während es sich die Mutter auf der Decke bequem machte und ihnen zusah.
Der Vater stellte sich auf den Schaukelsitz und schwang sich in die Höhe. Mit offenen Mund stand der Junge da und verfolgte staunend die Luftschwünge des Vaters. „Komm auf die Schaukel, Luise …“, hörte er den Vater singen. Der Junge lachte und rief: „Sie heißt nicht Luise, sie heißt Hilde!“
„Na, dann kommt eben mein kleiner Junge. Und wie heißt der?“
„Steffen!“
Dann ging es mit der Schaukel hoch in die Luft. Er saß zwischen den Beinen des Vaters, hielt sich an den Metallstäben fest. Er wusste, dass ihm nichts geschehen konnte, denn der Vater war bei ihm. Die Mutter deutete aus der Ferne an, sie sollten es nicht übertreiben, doch der Junge wollte in die Wolken greifen, die sich inzwischen über ihnen gebildet hatten. Wie die Zuckerwatte auf dem Rummel sahen sie aus.
Bald ließ der Vater die Schaukel austrudeln und danach kehrten sie zur Mutter zurück. Prüfend blickte sie zum Himmel, doch schien noch keine Eile geboten, sodass sie den kleinen Ball heraussuchte. Als wäre ihr Picknickkorb unerschöpflich. Gemeinsam tobten sie nun dem Ball nach und Steffen freute sich, wenn er flinker als die Eltern war. Er wusste, dass sie es so einrichteten, dass er stets gewann und freute sich dennoch über jeden seiner Siege.
Am Nachmittag, als es dunkler wurde, packte die Mutter alles in ihren Korb. Auf der Heimfahrt durfte sie voranfahren. Sie hatten ihre Fahrräder dann endlich im Flur abgestellt, als es zu regnen begann.
„Siehst du“, sagte der Vater zu Steffen, „heute meint es sogar der Wettergott gut mit uns.“
Ich war wütend. Außerdem hatte ich doch mit meiner Frage recht. Seit langer Zeit warteten wir auf Post von meinem Vater. Es war doch möglich, dass er uns mitteilte, bald nach Hause zu kommen. Warum brauchte sie dann den dicken Franz?
Bald hörte ich Geräusche, dann Schritte, die aber nicht zur Hoftür hinauskamen. Ich äugte durch den schmalen Schlitz zwischen dem oberen Deckel und der Steinmauer, welche die Grube umgab.
Es war einer unserer Nachbarn, ein ehemaliger Friseur, schon grauhaarig und hoch aufgeschossen wie eine Bohnenstange. Ganz im Gegensatz zu diesem Franz war sein Bauch flach wie ein Brett. Darum brauchte er auch Hosenträger. Sie spannten sich über seine ebenfalls flache Brust. Ihre Ränder fransten bereits aus, so „alt gedient“ waren sie.
Früher hatte mich meine Mutter zu ihm zum Haareschneiden geschickt. Wahrscheinlich hatte sie heimlich mit ihm verabredet, dass er mich so kurz schor, bis nur noch eine „Bürste“ übrig blieb. Deswegen zögerte ich den nächsten Pflichtbesuch bei ihm so lange wie möglich hinaus. Wenn ich dann jedoch wieder zu ihm musste, sagte ich jedes Mal: „Heute will es meine Mutter aber nicht wieder so kurz haben!“ Dann nickte er verständnisvoll und begann mit seiner Schur, an deren Ende ich ebenso aussah wie beim letzten Mal. Wütend verließ ich darauf seinen „Salon“, der nichts anderes als ein beengter Raum in der Form eines Dreieckes war. Das Haus befand sich nämlich an der Stelle, wo zwei Straßen schräg aufeinanderstießen und eine Spitze bildeten.
Danach bin ich nicht wieder zu ihm gegangen; ich wollte nicht noch einmal zum Gespött meiner Mitschüler umherlaufen, die mich entweder zum „Igel“ machten und mich schließlich sogar so riefen. Oder mich für einen von jenen hielten, die Läuse hatten und deswegen derart „gestutzt“ wurden. Davon gab es zu dieser Zeit immer noch einige, obwohl diese Nachkriegsseuche inzwischen überwiegend ausgemerzt war.“
Erstmals 2003 veröffentlichte Alexander Kröger im Eigenverlag KRÖGER-Vertrieb Cottbus seinen Science-Fiction-Roman „Begegnung im Schatten“. Dem E-Book liegt die 2., überarbeitete Auflage zugrunde, die 2012 im Projekte-Verlag Cornelius Halle erschien: In einem Tagebau wird aus dem Kohleflöz ein Shuttle gebaggert. Das Öffnen gestaltet sich schwierig. Sein Inhalt, zunächst geheim gehalten, begeistert weltweit Wissenschaftler und führt zu Illegalem. Nach abenteuerlichen Vorbereitungen gelingt ein unerhörtes Experiment. Ein Wesen aus dem Erbgut einer anderen Welt setzt seine Schöpferin in höchstes Erstaunen, und Ermittlungen fordern Sensationelles zu Tage. Einen spannenden Hintergrund zu Krögers wissenschaftlich-fantastischem Roman aus den Jahren 2003 und 2012 bilden Zerrüttungserscheinungen und Werteverfall in der Gesellschaft. Hier der Beginn des utopischen Romans:
„1. Teil
- Kapitel
Der Morgen dämmerte.
Noch lagen Arbeitsebenen und Geräte im tiefen Schatten. Aber drüben über der höchsten Rippe der Kippe, als brenne der Kamm, fraß sich langsam gleißendes Licht herauf. Ein schöner Frühsommertag würde es werden.
Wie verloren stand Fritz Hegemeister neben dem Blechmonstrum, das er in der Nacht aus der Kohle gelöst hatte. Übermannshoch und stromlinienförmig, in der Tat einem Shuttle ähnlich, lag es da, kohlebeschmiert ohne sichtbare Zeichnung. Die Zähne des Schaufelrades hatten zwar vorn – wo war vorn? – eine Kante leicht wellig verformt und die Oberfläche silbrig angeritzt, aber keinen wirklichen Schaden verursacht. >Hartes Zeug
EDITION digital wurde vor 25 Jahren von Gisela und Sören Pekrul gegründet und gibt Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, derzeit fast 1.000 Titel (Stand Juli 2019).
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