Der vielseitige Schriftsteller Klaus Möckel ist in dieser Ausgabe des Newsletters mit fantastischen Geschichten vertreten – In „Die seltsame Verwandlung des Lenny Frick“ beschreibt er unter anderem die unerwartete Landung von Außerirdischen und deren überraschendes Aussehen. Aber das hat einen für die Menschheit nicht besonders rühmlichen Grund …
An Leben und Werk der 1943 in Auschwitz ermordeten jüdischen Dichterin Getrud Kolmar erinnert Uwe Berger mit seiner Erzählung „Flammen oder Das Wort der Frau“.
Eine Biografie ohne Auto hat der Erfurter Autor Dietmar Beetz verfasst – „Kaleidoskop in b. Splitter einer –biografie“.
Außerdem präsentiert dieser Newsletter am Ende dieser Ausgabe ein Angebot zum Super-Sonder-Preis. Es geht um Liebe, Glück und um ein Feuerwerk, ein ganz besonderes Feuerwerk. Aber mehr dazu am Ende dieses Newsletters, wie gesagt. Und damit zurück zum Schweriner Dwang und seiner Geschichte. Und zu der Antwort auf die interessante Frage, warum der Dwang eigentlich Dwang heißt.
Erst vor kurzem hat die EDITION digital „Der Dwang. Die Geschichte einer kleinen Schweriner Halbinsel im Ostorfer See“ von Elke Steinhausen herausgebracht. Und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Das Buch ist ein Streifzug durch 300 Jahre Geschichte einer kleinen Schweriner Halbinsel im Ostorfer See. Im 17. Jahrhundert war sie noch ein rauer Ort, auf dem die niedere Jagd betrieben wurde. Später, über lange Zeit durch Landwirtschaft geprägt, jedoch immer unbewohnt, blieb der Dwang für die Nutzer interessant. Für einen Müller wurde die höchste Geländeerhebung ein begehrter Bauplatz für seine Mühle. Erst durch den Bau der Eisenbahnlinie Schwerin – Hagenow veränderte sich die Fläche der Halbinsel, blieb aber begehrt, als Kleingärten auf beiden Seiten der Bahnstrecke angelegt wurden. Erst im 20. Jahrhundert wurde der Dwang ein attraktiver Wohnort und ist es heute mehr denn je. Vor Beginn des eigentlichen Buches steht
„Ein Wort zuvor
Ein Zeitungsverkäufer der lokalen Presse fragte mich, als er meine Anschrift für ein kostenloses Abonnement dieser Zeitung notierte, Sie wohnen auf dem Dwang? Liegt der nicht in Pinnow? Dwang bedeutet doch Berg oder Anhöhe?
Nein, nein, beides ist nicht richtig, antwortete ich ihm. Die Halbinsel Dwang liegt im Ostorfer See, nahe beim Alten Friedhof, auf halbem Weg zwischen Schwerin und dem einstigen Bauerndorf Görries, östlich der Eisenbahnlinie Schwerin – Hagenow. Sein Erstaunen über diese Antwort war nicht zu übersehen. Und Dwang bedeutet auch nicht Berg oder Anhöhe. Der Dwang ist umgeben vom Ostorfer See, also eingezwängt vom Wasser dieses Sees. So wurde die Halbinsel, die nach einer alten Karte aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch als Insel dargestellt, aber bereits fünfzig Jahre später auf einer topografischen Karte als Halbinsel abgebildet wurde, hochdeutsch Zwang und plattdeutsch Dwang genannt. Später, ein genauer Zeitpunkt ließ sich nicht ermitteln, verschwand die Bezeichnung Zwang vollständig.
Auch wenn auf der erwähnten Karte vor beinahe 300 Jahren die Dwang-Insel in ovaler Form dargestellt wurde, so mag das der damaligen Auffassung des Kartenzeichners geschuldet sein. Wir können den Kartenzeichner nicht mehr fragen. So bleibt uns Heutigen nur eine vage Vorstellung der wirklichen Gestalt des Dwang in früher Zeit. Wilhelm Jesse nennt in seiner Geschichte der Stadt Schwerin, Band I, 1913, Seite 315 den Zwang einen Zipfel zwischen den Teilen des Ostorfer Sees. An diesen See grenzen die Dörfer Krebsförden, Görries und Ostorf mit der Landspitze Krösnitz. Im Gefüge der alten Residenzstadt des Herzogtums und späteren Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin, der heutigen Landeshauptstadt des Bundeslandes Mecklenburg–Vorpommern, spielte und spielt der Dwang keine wesentliche Rolle auf kulturellem, politischem und sozialem Gebiet.
Dennoch schaut der Dwang auf eine lange Geschichte zurück. Von seinen Besonderheiten lesen wir auf den folgenden Seiten. Seit nunmehr 80 Jahren wird der Dwang von Menschen bewohnt, die den einstmals nur als landwirtschaftlich und später auch gärtnerisch genutzten Teil des Stadtbinnenfeldes mit Leben erfüllen. Während dieser Jahrzehnte erlebten die Bewohner drei das Leben beeinflussende, vollkommen unterschiedliche Gesellschaftsformen. Auch die Häuser erfuhren Veränderungen. Etliche Häuser sind noch heute im Besitz von Kindern oder auch schon Enkelkindern der ursprünglichen Hausbesitzer. Im Laufe der Zeit wurden einige Häuser verkauft, die meisten saniert, einige abgerissen und an selber Stelle durch einen Neubau ersetzt. Sie alle, die Ureinwohner, deren Nachkommen und die neuen Dwang-Bewohner prägen das Erscheinungsbild der Wohnsiedlung und das Leben „Auf dem Dwang“.
Im Statistischen Sonderheft veröffentlichte die Landeshauptstadt Schwerin mit Stand vom 31. Dezember 2010 die Einwohnerzahlen Schwerins. Ihren Hauptwohnsitz hatten zu diesem Zeitpunkt 93.225 Personen in Schwerin. Auf dem Dwang, der nun zum Ortsteil Görries gehört, waren es 136 Bewohner. Um diese Geschichte aufschreiben zu können, waren viele Stunden Sucharbeit im Schweriner Stadtarchiv notwendig. Neben dem Aktenstudium gab es etliche Gespräche mit älteren Dwang-Bewohnerinnen, die mit ihren Erinnerungen die vorliegende Arbeit ergänzten. Dennoch erhebt diese erste Fassung der Dwang-Geschichte nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, möchte die Leser zu ergänzenden Mitteilungen an die Verfasserin anregen.“
Erstmals 1985 erschienen im Verlag Das Neue Berlin fantastische Erzählungen von Klaus Möckel unter dem Titel „Die seltsame Verwandlung des Lenny Frick“: Lenny Frick war schon immer in Autos vernarrt, doch seit er sein Cabrio „Sanfter Blitz“ besitzt, gehen bedrohliche Veränderungen in ihm vor. Er sieht die Welt mit den Augen der Fahrzeuge, wendet sich von seiner Frau und den Freunden ab, will mit den Menschen brechen. Wird er wirklich die besondere Lebensqualität erreichen, die er anstrebt? Mit seinen fantasievollen Erzählungen schließt Möckel hintergründig-ironisch an die „Einladung“ und den Band „Die Gläserne Stadt“ an. Erneut werden zeitliche und räumliche Verschiebungen, der Kosmos, Utopie und Antiutopie benutzt, um menschliche Verhaltensweisen aufs Korn zu nehmen. Ein Wissenschaftler findet eine Methode, verlorenes Gewissen zurückzugeben, ein rechtschaffener Bürger wird von dem defekten Automaten eines Dienstleisters an den Rand des Ruins gebracht. Besuch aus einer Spiegelwelt trifft ein; ein Mann entdeckt die Fähigkeit in sich, ihm missliebige Personen ins Fernsehen zu verbannen, ein anderer vergeht sich an der Natur und muss erleben, wie sie zurückschlägt. Ideenreichtum und stilistische Vielfalt zeichnen diese Storys aus, die direkt für die Auseinandersetzungen mit den Widersprüchen heutiger Zeit geschrieben scheinen. „Möckels phantastische Erzählungen sind köstlich. Es gibt Angebote zum Nachdenken. Er wandelt sicher vom skurrilen Humor zur bissigen Satire… Man wird angestachelt, sich und andere neu zu entdecken“, schrieb Christoph Hinrich über das Buch in der Zeitung „Junge Welt“ vom 10. Februar 1984. Hier ein Beispiel für diese Fantastischen Geschichten:
„Die Außerirdischen
Eines Tages, die Menschheit war trotz allen Geredes über Ufos und das Leben auf fremden Planeten im Grunde nicht auf eine solche Begegnung vorbereitet, landeten in Cap Canaveral Außerirdische.
Es geschah völlig überraschend. Signale der Annäherung eines unbekannten Raumfahrzeugs waren erst wenige Tage vor der Ankunft registriert und zunächst noch nicht einmal ernst genommen worden. Dann, als das Unglaubliche, noch nie Dagewesene immer wahrscheinlicher wurde, stellte man auf die Schnelle ein Begrüßungskomitee zusammen. Die berühmtesten Politiker und Gelehrten der führenden Industrienationen waren darin vertreten, daneben ein paar Diplomaten kleinerer Länder und last but not least zwei Fantastikschriftsteller.
Zugleich wurden allerlei Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Während man weniger an eine eventuell notwendige medizinische Hilfe dachte, galt der Abwehr hinterhältiger Viren und Bakterien größte Aufmerksamkeit. Vor allem aber wurde das atomare und sonstige Waffenpotential in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Man war zwar gewillt, die Abgesandten einer fremden Zivilisation herzlich und freundschaftlich aufzunehmen, musste aber auch gegen unerwartete Gefahren gewappnet sein.
Als das Raumschiff dann, von Licht- und Funksignalen geleitet, tatsächlich landete, hatten sich weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft eingefunden, außerdem natürlich Medienvertreter aus aller Welt. Obwohl man versucht hatte, die Nachricht von der Ankunft der Fremden geheim zu halten, hatte sie sich wie ein Lauffeuer verbreitet und eine unübersehbare Menschenschar angelockt. Sie war nur mühsam durch Bereitschaftspolizei und Absperrungen im Zaum zu halten.
Das Raumschiff selbst hatte etwas Vertrautes an sich. Es glich zwar genauso wenig den amerikanischen Spaces-Shuttles wie den russischen Kosmonautenkapseln, hätte aber ohne weiteres in einen Science-Fiction-Streifen der siebziger und achtziger Jahre gepasst. Niemanden hätte es deshalb überrascht, wenn ein Herkules mit kupfernem Stirnband, eine gut gebaute junge Dame in eng anliegendem Glanzkostüm der sich öffnenden Luke entstiegen wäre. Doch diese Vorstellungen erfüllten sich nicht. Wie erstaunt war die in Ehrfurcht und Neugier erstarrte Menge, als dem Gleiter lediglich einige in hauchdünne Skaphander gehüllte Tiere entstiegen. Doch damit noch nicht genug. Wenn man die Körperformen, die Köpfe mit den langen Ohren, die Hufe und Schwänze betrachtete, waren es sogar eindeutig Esel.
Man kann sich die Verblüffung der Menge und des Empfangskomitees vorstellen. Ein Raunen erhob sich und füllte das Rund. Mancher der Politiker oder Wissenschaftler musste all seinen Anstand bemühen, um nicht in ein völlig unangebrachtes, unhöfliches Grinsen oder gar in ein Gelächter zu verfallen. Das Erstaunen wurde jedoch sofort durch ein noch größeres abgelöst, das diesmal sehr positiv war. Die Esel, zunächst auf räumlichen Abstand bedacht, machten sich nämlich über eine Art Mobilfunk sehr gut verständlich. Sie sprachen ein Kauderwelsch aus Englisch, Spanisch, Russisch und Chinesisch, in das sich sogar ein paar deutsche Brocken mischten. Mit Hilfe von Dolmetschern konnte man ohne weiteres Kontakt zu ihnen aufnehmen. Zur allgemeinen Erleichterung verhielten sich die Tiere auch durchaus vernünftig. Sie erklärten, sie kämen in friedlicher Absicht, waren mit einer Quarantäne einverstanden und zeigten sich insgesamt als aufgeschlossene humane Wesen, wenn man das bei Eseln einmal so nennen darf.
Eine äußerst aufregende Zeit begann für alle Beteiligten. Konferenzen wurden durchgeführt, die Gäste besichtigten Betriebe und Einrichtungen, informierten sich über die verschiedensten Wissensgebiete, besuchten die schönsten und auch einige unwirtliche Landstriche der Erde. Dabei hatte ein Reiseplanungsbüro sorgsam darauf zu achten, dass sie keine Zoos oder gar Schlachthöfe zu Gesicht bekamen, nicht zufällig von grausamen Tiertransporten hörten. Überhaupt vermied man alles, was das Verhältnis zwischen Mensch und Tier berührte. Die Gäste selbst hielten sich in dieser Hinsicht übrigens zurück, berichteten mehr allgemein von ihrer fernen Galaxis und der weiten Reise, die sie hinter sich hatten.
Fast hatten sich die Erdenbewohner an das sonderbare Äußere der Fremden gewöhnt, als die Wissenschaftler eine eigenartige Entdeckung machten. Anhand von Aufnahmen aus der Heimat der Außerirdischen mussten sie erkennen, dass diese zu Hause offenbar nicht als Vierbeiner herumliefen. Vielmehr waren sie durchaus von menschenähnlicher Gestalt. Niemand konnte sich diese Tatsache erklären. Nach einigem Zögern fasste sich einer der Begleiter ein Herz und fragte die Gäste nach den Gründen für ihr derzeit so ganz anderes Aussehen.
Die Antwort war ein langes verlegenes Schweigen. Endlich raffte sich eins der Tiere auf und erwiderte: „Nun ja, uns ist da ein bedauerlicher Fehler unterlaufen. Wir haben uns, bevor wir zu unserer Weltraumfahrt aufbrachen, natürlich über die verschiedenen Planeten informiert. Über die Erde konnten wir jedoch leider nicht viel erfahren. Die Computer sagten uns lediglich, dass dort sehr sonderbare Wesen leben müssten. Sie würden ihren Himmelskörper, der ihnen als einziger in ihrer Galaxis die Bedingungen für menschliches Leben erlaubte, wider besseres Wissen in rasendem Tempo selbst zerstören. Sie würden Landschaften vernichten, die Luft verpesten, Kriege führen und überhaupt alles tun, um künftigen Generationen eine Existenz unmöglich zu machen. Mit einem Wort, sie wären rechte Esel, denn nur so könne ihr Verhalten erklärt werden. Der Anschaulichkeit halber zeichneten die Computer ein Bild von diesen Tieren. Wolle man sich mit ihnen verständigen, meinten sie, wäre es wohl das Beste, auf der Erde die Gestalt dieser Vierbeiner anzunehmen. Unser Irrtum, oder genauer gesagt, bereits der unserer Forschungscomputer bestand also darin, dass sie diese unglaubliche Verhaltensweise den echten Eseln zuschrieben, Tieren, die völlig schuldlos daran sind. Wie hätten wir aber auch – verzeihen Sie – annehmen können, dass Menschen hier leben und so etwas Dummes, Verbohrtes tun.“
Und der Gast schloss höflich mit den Worten: „Bitte verübeln Sie uns unsere Offenheit nicht, wir wissen ja alle, die Wahrheit tut oft weh. Nehmen Sie aber gleichzeitig freundlichst zur Kenntnis, dass wir uns hiermit aufrichtig bei allen echten Eseln auf der Erde für diese Verwechslung entschuldigen!“´
Erstmals 1990 veröffentlichte der Aufbau-Verlag Berlin und Weimar die Erzählung „Flammen oder Das Wort der Frau“ von Uwe Berger: Die jüdische Dichterin Gertrud Kolmar wurde 1943 deportiert und in Auschwitz umgebracht. Nach dem Krieg machte sich im Westen Deutschlands Hermann Kasack um ihr Werk verdient. Im Osten tat dies Uwe Berger, der auch die Erzählung FLAMMEN über sie schrieb. Dabei benutzt er das authentische Material, die Briefe an ihre Schwester, die wenigen Lebensdaten, und er füllt das Datengerüst mit seiner Fantasie. Das sind vor allem die Gespräche, der Name Joseph, nicht der Fakt, ihre Leidensgefährtinnen, die Umstände ihres Todes in Auschwitz. Uwe Berger zeichnet eine sensible und entschlossene Frau. An ihre Schwester schreibt sie, dass sie den Weg gehe, der ihr von innen her bestimmt ist. Die gewaltigen Bilder ihrer Poesie sprechen für sich:
Mag sein, sie haben meinen Traumwald nicht
Mit Blättern, die sich langsam müde färben,
Und nicht die kahle Straße vorm Gesicht,
Darauf ich täglich wandre in mein Sterben.
Hier der Beginn dieses berührenden Textes:
„1. Kapitel
Sie ging wie in einem Traum, in dem sie sich selbst als Fremde empfand. Ihre Füße bewegten sich ohne ihren Willen, und ihre Gedanken flatterten hilflos gegen die Häuserwände. Der Nollendorfplatz prangte nicht in den erdbraunen und ziegelroten Farben, die sie von einem Bild her kannte und die sie unbewusst erwartet hatte. Um sie herum war alles aschegrau. Selbst die aus der Tiefe gekommene U-Bahn war fahl überstaubt und rasselte, von Pfeilern hochgehoben, zwischen steinerner Erde und verhangenem Himmel dahin. Am Hochbahnhof Bülowstraße, dessen Gestänge die Verspieltheit einer Gartenlaube und die Feierlichkeit eines Doms nachahmte, bog sie in die Potsdamer Straße ein. Sie blieb vor dem Schaufenster eines Buchladens stehen. Inmitten der Auslage thronte eine Biografie über Horst Wessel, den Verfasser der nach ihm benannten Hymne des Reiches, über den gemunkelt wurde, er sei ein Zuhälter gewesen. Schwarz glänzend grinste sein Bildnis sie an. Im Hintergrund reihten sich Wildwestschwarten, deren schreiende Umschläge Reklame für den Schießhelden Billy Jenkins machten. Sie wandte sich angewidert ab.
Als sie die Potsdamer Brücke erreichte, drang ein Lichtstrahl durch die dicken Wolken. Für einen Augenblick war es, als werde die Straße breiter, die Luft sauberer. Die Buchhandlung an der Ecke stellte ihr Niveau mit Büchern von Novalis, Binding und Kolbenheyer zur Schau. Die Romantik, weitergeführt von Heldenverklärung und mystischer Borniertheit. Ein Hauch jenes exklusiven Gehabes wehte sie an, das auch aus den hochmütigen Fassaden dieser Gegend sprach. Es war die Kehrseite ungeistiger Rohheit. Ihre Füße trugen sie hinab zur steinernen Einfassung des Landwehrkanals. Dunkel und drohend lag das Wasser. Was hatte es gesehen, was geschluckt und fortgetragen.
Ein hagerer Mann mit dem Nazi-Abzeichen auf dem Mantelaufschlag kam ihr entgegen. Er musterte sie von oben bis unten und wich ihr nicht aus. Trotz ihres Bemühens, eine Berührung zu vermeiden, streifte er sie mit der Schulter. Es durchzuckte sie. Der grüne Rasen auf der Böschung, die Kastanien, die noch schlappe, frischgrüne Blätter entrollten, erinnerten sie schmerzlich an den Garten des Hauses in Finkenkrug. Dort war sie mit Pflanzen und Tieren befreundet gewesen, hatte in Versen die Ringelnatter, die Kröte, die Krähe zu Sinnbildern menschlichen Leidens und Richtens gemacht. Dort hatte sie Ruhe gefunden auf der Flucht vor der Welt. Aber ihre unruhigen Gedanken waren wieder hinausgewandert, aufgeschreckt von den Schreien der Gefolterten und Gequälten, den Schreien, die in der Stille an ihr Ohr drangen. Der Rauch des Reichstagsbrandes und der brennenden Bücher hatte die Sträucher ihres vertrauten Gartens berührt. Wer Brände legte und die Vernunft tötete, tötete auch Menschen.
Was bedeutete ihr der Hauch des frischen Grüns, das aus den Bäumen brach, der dumpfe Geruch des unheimlichen Wassers? Nichts war geblieben als die Erinnerung und dieser Stich ins Herz, den ihr der Anblick des kleinen Jungen auf dem Roller gab. Wie inbrünstig hatte sie sich ein Kind ersehnt, als sie die Kinder anderer, als sie die kleinen Taubstummen unterrichtete, die nur sehend und tastend mit der Welt verkehrten. Wie inbrünstig noch heute.
Nichts war geblieben, auch das Haus nicht, um das herum der Garten sich friedlich und ruhig gelagert hatte. Nicht einmal die Hündin. Für alles gab es juristische Verfügungen. Gesetz war die Drohung Hitlers geworden: »Es soll ihnen vergehen, das Lachen …« Ihnen, den Juden. Vor einem halben Jahr waren die Läden der Juden geplündert, ihre Synagogen verwüstet, sie selbst zu Tausenden verschleppt, ihr Eigentum geraubt worden. Man hatte sie mit der Zahnbürste die Straße reinigen lassen, man hatte sie erschlagen. Pogromgelüste waren zum Gesetz erhoben. Pedantischer Sadismus zog einem langsam den Strick am Halse zu. »Though this be madness, yet ther’s method in’t«, hieß es bei Shakespeare. Der Wahnsinn hatte Methode. Haltet die Diebe, schrien die Diebe. Waren sie gesättigt mit Österreich und der Tschechoslowakei? Es trieb sie immer weiter. Unheil für Verfolgte und Verfolger lag in der Luft.
Sie, Gertrud C., war allein. Was vermochte sie zu tun? Mit beiden Händen hielt sie sich fest an dem Geländer, das den Kanal begleitete. Sich hinüberschwingen? Manche begingen Selbstmord. Sie kämpften nicht wie diese Kommunisten, von denen man immer wieder hörte, die untertauchten in der Masse der einfachen Leute, starben, mit anderem Gesicht wiederauflebten. Die meisten Menschen ihrer eigenen Art und Herkunft sahen nicht einmal, was sich ihnen näherte, steckten den Kopf in den Sand. Und wenn sie sahen, erstarrten sie. Ihr blieb nur das Wort. Das war nicht viel – und doch. Ihre Hände hafteten wie angefroren an dem kalten eisernen Geländer.
Wie lange war es her, dass sie Gedichte über alte Stadtwappen geschrieben hatte. Damals war sie die Stimme der Leidenden, die nie gekrönt werden. Unüberhörbar blieb ihr der Ruf der zum Gefressenwerden bestimmten Kreatur: Steht auf, ihr Herren, bald muss Tischzeit sein! Sie hatte eine Zukunft erblickt, da jeder Gast den Bedienern wert ist und kein Unten und kein Oben sein wird. Aber sie musste sich einbezogen sehen in Pogrome, deren Vergangenheit immer grauenvollere Gegenwart wurde. In dem anderen Buch, das im vergangenen Jahr erschienen und sogleich wieder eingestampft worden war, hatte sie sich zu ihrem Schicksal bekannt. Sie war die Fahrende, die spürte, nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein, die Erzieherin mit der kahlen Straße vorm Gesicht, auf der sie täglich in ihr Sterben wanderte. Und sie hörte das Flehen des Fisches, hingelegt in dieses Netz mit Tausend, Abertausend Leibern und ausgegossen in schwarze Tröge. Sie, die Hörende und Sehende, durfte nicht verraten. Sie hatte sich ihrer Worte würdig zu erweisen. Nicht gehetzt, sondern entschlossen pochten ihre eiligen Schritte auf den großen Steinplatten des Kanalweges. Ebenso wenig wie die Selbstaufgabe kam für sie die Emigration in Betracht. Nach England zu gehen war nicht mehr möglich, weil es nicht mehr möglich war, ihren alten Vater mitzunehmen. England oder Amerika, glichen sie zudem nicht dem kahlen, kalten Betonbau jenseits des Kanals? Ihre Welt lag anderswo, und es war die Revolution nicht, die sie hinderte, dorthin auszuwandern, sondern die fehlende praktische Möglichkeit. Wie hilflos im Leben waren Menschen wie sie, die sich im Reich des Geistigen so sicher bewegten.
Bei den blassgrünen Bäumen des Lützowplatzes wich sie vom Kanal. Unendlich eintönig erschien ihr der Weg zurück zum Nollendorfplatz, an den nichtssagenden Fassaden der Winterfeldtstraße, der Martin-Luther-Straße entlang. Sie sah die Menschen nicht. Beinahe hätte sie den Eingang des Hauses in der Speyerer Straße 10 verfehlt, der sich von anderen nicht unterschied.
Der greise Vater saß in dem großen Wohnzimmer, dem dunkle Eichenmöbel ein steifes, vornehmes Aussehen gaben. Er hatte eine Zeitschrift in der zitternden Hand und sagte ungeduldig: »Du warst lange fort.«
»Ich habe nach der Vergangenheit gesucht«, sagte sie, und es klang sanft und anschmiegsam.
»Und?«
»Sie ist tot Die Farben sind erloschen. Der Landwehrkanal riecht nach Leiche.«
»Aber Gertrud!«
»Möchtest du Kaffee oder Tee trinken?«
Man sah Ludwig C. noch immer den Rechtsanwalt an, der er einmal gewesen war. Doch seine weißhaarige Würde, die durch einen dunklen Anzug unterstrichen wurde, verbarg nicht seine Gebrechlichkeit. Gertrud war schmal und unauffällig. Große dunkle Augen, ein ebenso fein wie energisch geschnittener Mund gaben ihrem Gesicht innere Schönheit.
Schweigend tranken sie Tee und aßen ein wenig Brot und Marmelade. Dann stand Gertrud auf. »Ich will einen Brief an Hilde schreiben.«
Sie stellte das Geschirr auf ein Tablett, säuberte das Tischtuch. Ihr Vater blickte wie aus dem Schlaf erwachend auf und fragte mit brüchiger Stimme: »Meinst du denn, dass noch jemals etwas Geschriebenes von dir ans Licht kommt?«
»Licht wird sein, wenn auch vielleicht nicht mehr für uns.«
In dem kleinen Zimmer, das nach hinten hinaus lag, setzte sie sich an ein Tischchen, nahm einen weißen Bogen und schrieb an ihre Schwester in der Schweiz. Sorgfältig bedachte sie dabei die ungebetenen Augen, die mitlesen würden. »Liebe Hilde … Meine Aufgabe hat immer gleichsam in mir gelegen; da liegt sie noch, und was ich suche, ist nur der geeignete Ort, an dem ich mich ihr widmen kann. Und ich weiß nicht … ich muss immer denken, dass in Amerika dieser geeignete Ort nicht zu finden sei … Ich habe nun einmal – wie bei unserem Gebet – das Antlitz nach Osten gekehrt, und dass dies bei mir keine >neue Mode< ist, weißt Du. Es hat sich schon früh gezeigt: umsonst war ich nicht als etwa Neunjährige mit Hilde Josan befreundet, und die Josans waren sehr asiatische Russen, hatten in Sibirien gelebt und in China … Ich bin auch wohl so eine >verhinderte Asiatin< – und wäre froh, wenn die Verhinderung beseitigt werden könnte; als Europäerin würde der Weg nach Westen mir wahrscheinlich leichter fallen …«
England und Frankreich verhandeln in Moskau, dachte Gertrud, aber man hört nichts weiter; meine Sätze werden unverfänglich erscheinen. Sie nahm einen anderen Bogen Papier und entwarf ein kontrastreiches Wortbild von Jean-Paul Marat. Wie sie einst von einem streunenden Hund geschrieben hatte, er grinse die hübschen Pinscher an mit bös verzerrtem Maul, so begann sie: »Du Tier. Du Dreck. Du zottelndes Geschlampe.« Und es lag darin nicht nur weibliche Abscheu vor dem Ungepflegten, es lag darin nicht nur die Bewunderung, die Anrufung des Aufstands, nein, die Revolte, die Revolution selbst erhob ihr Haupt: Marat, der Äcker sah um verfallene Hütten und in alle Hungerhände Brot und, verwüstet, stöhnend, im Fieberwahn den eingerollten Morgen neuer Zeit ergriff und ihn aufwarf wie eine Fahne. Und die Dichterin, die mit aufgerissenen Augen durch das Fenster starrte, dann wieder den Kopf übers Papier neigte, empfand nicht für ihre Gesellschaftsschicht, nicht einmal für die aus der Reichsbürgerschaft Ausgestoßenen, sondern für die Armen und Unterdrückten alle, in deren Not sie die eigene erkannte.
Über den Dachrand des gegenüberliegenden Hinterhauses färbte sich der Himmel glühend rot. Eine Krähe strich hindurch.“
Erstmals 2006 druckte Dietmar Beetz in seinem eigenen Verlag, in der Erfurter Edition D.B., „Kaleidoskop in b. Splitter einer –biografie“: Dies hier sind Splitter einer Autobiografie, der man das Auto- geklaut hat und die deshalb vorn ohne daherkommt. Dem Autor ist – gleich den meisten Wesen in seinem Blickfeld – einiges zu Bruch gegangen im Schweinsgalopp der Zeit – Scherben, die er, mittlerweile nah dem Schlusskapitel, aufzuklauben versucht. Aufzuklauben, nicht zusammenzukleben, doch ein wenig zu ordnen und herzurichten; denn heil und glatt – so meint er – war’s nie, mitunter aber bunt und kaleidoskopisch schön. Das biographische Kaleidoskop beginnt mit dem Anfang des eigenen Lebens:
„1. Teil: Herkunft
TRÜB SIND DIE GEWÄSSER
der Vergangenheit. – So oder so ähnlich ein dem Schreiber dieser Zeilen nahestehender Sprücheklopfer an einem regengrauen Samstagvormittag. Kein tiefer Brunnen also, an dem man rasten könnte, sich lagern, um sich zu laben an kühlem, kristallklarem Wasser; auch nicht unbedingt ein Tümpel voller Gewürm unter grünlich-schleimiger Entengrütze; eher ein Teich, wie er in der Gegend, wo diese Erinnerungen ihren Ausgang nehmen, reichlich Vorbilder hat, Teiche, angelegt von Flößern oder für den Erzbergbau als Staubecken vor einem Pochwerk oder, neuzeitlicher, zum Betreiben einer Schneidemühle, gespeist von einem Bach, der noch vor einem Menschenalter auch Viehtränke war.
Stopp hier! Und gleich den Vorsatz, nicht abzuschweifen und nicht auszuufern. – Zudem mit einiger Verwunderung die Fragen: Woher auf einmal all die Einzelheiten, und weshalb ausgerechnet solche Details? (Libellengeflirr und Mückengesirr überm Schilfsaum eines jener Teiche – oder gab’s dort nur Binsen? Heuhalme am Dorfstraßenrand, geknickt, von keinem Lufthauch bewegt. Der Geruch von Staub und Stroh, von Sommerferien-Ernteschweiß im Gerüttel der klapprigen Dreschmaschine.) Keine Verklärung, obwohl irgendwas, das eingepflanzt sein mag oder anerzogen, gelegentlich dahin drängt. Auch nicht das Gegenteil, für das jener Sprücheklopfer an einem seiner trüben Vor- oder Nachmittage Anleihe nahm, indem er nachempfand: eine Kindheit, die Wunde war, mitsamt dem Schorf darüber, der entstellt.
Schorf und Wunde und all die großen, all die übergroßen Worte. Keine Story, die ohne Skandal sellt. Der Tabubruch, das Sakrileg, das ultimative Nonplusultra. Fern dieser panisch sich beschleunigenden, crash-knall-programmierten Schussfahrt: Sich im Gehen üben, Gelassenheit trainieren. Nicht das Erdreich Literatur durch den Wolf drehn, um Bomben-Schocker-Lolli auszusieben und dutzendbändig PISA-gängig zu verfietschern. Sparen, falls verfügbar, Anmut nicht noch Mühe, auf den Punkt zu bringen, trefflich, was dir wichtig war und dir / dich noch im Rückblick wesentlich dünkt – ja, dünkt, auch wenn’s sogar den drei, vier Nächsten neben dir banal bis peinlich erscheinen könnte.
Dein Kaleidoskop also gedreht und aus dem Kreis, der sich ergibt, dem ersten Bild einer Folge, ein paar markante Splitter skizziert!
D’R GROASS SCHWARZ MOU
Da ist ein Bahnsteig, dort eine Wirtshausstube, hier ein dunkler, mit einer gescheckten Plane bedeckter Hügel. Das eine wie das andere und auch das dritte – sie alle leuchten auf in zeitlich naher Verwandtschaft, und würde man warten und ein wenig starren, tauchten wohl noch weitere Schemen auf, andere Schattenbilder mit gleichem Nenner und ähnlichem Kolorit.
Der Hügel wölbt sich am Fuhrweg zwischen der Eller und dem Hexenhaus an der Mondscheinwiese. (Eller: ein gerodeter, als Acker für untauglich befundener, Gräsern überlassener Hang am Waldrand; das Hexenhaus: selbstverständlich jenes Häusle, das vor Zeiten aus Brot gebaut und mit Kuchen gedeckt war und Fensterscheiben aus hellem Zucker hatte, sodass Hänsel und Gretel dran knuspern konnten.)
Hatten auf dem Weg dorthin nicht die ausgestreuten Kieselsteine im vollen Mondenschein wie neu geschlagene Batzen geschimmert? Und nun links am Rand, auf einem mit Haargras bewachsenen Flecken unter einer scheckigen Plane, die der Großvater an einem Zipfel anhebt …
„Das ist doch …“ Schreck und Verwirrung greifen dem Zweieinhalbjährigen an die Kehle.
Der Opa nickt. „Ja, dem Alberticus – dem Albert sein Schimmel.“
„Und warum liegt er hier?“
„Tja, warum? Weil – weil er tot ist, gestorben.“
„Gestorben? Stirbt denn – aach a Pfaar?“
Kann sein, das Kind, um das es hier geht, war an jenem Tag mit älteren Kindern unterwegs, nicht mit seinem Opa Magnus. Möglich auch, dass es nicht zweieinhalb Jahre zählte, sondern schon dreieinhalb, dass also Fritz, der Schimmel des Fuhrmanns und Gemüsehändlers Albert H., erst 1943 an einem gewitterschwülen Spätsommernachmittag vor einer Holzfuhre zusammenbrach. Zweifelsfrei aber, dass dem Kind „Sterben“ und „Tot-Sein“ vertraute Worte waren, wenngleich sich mit diesen Begriffen kuriose, eben kindliche Vorstellungen verbanden. Unwichtig zudem, was beim Anblick des Pferdekadavers geäußert wurde, ja ob überhaupt was – und wenn, dann sicher durchweg im Dialekt.
Wichtiger wohl, dass dem Kind an jenem Tag – und im Übrigen noch Jahre danach – alles, was mit dem Sterben und dem Totsein zusammenhing, seltsam erschien, bedrückend, ungerecht. Wie konnte, wie durfte ein Pferd, ein großes, kräftiges, schönes Tier, einfach umfallen, liegen bleiben und tot sein? – Gefallen und tot wie der Onkel Gotthard, der Reinhard und der Frieder. Mit ihnen hatte das Kind (wann eigentlich? doch neulich erst!) im Wirtshaus gesessen, und zuvor waren der Onkel und der Reinhard, den Kleinen an der Hand, die Dorfstraße hinab geschritten, der Onkel in Kriegsmarinekluft, sein Schulfreund Reinhard in Wehrmachtsuniform, beide zufällig gemeinsam auf Heimaturlaub und noch außerstande, diesen Glücksumstand zu fassen, und als sie dann vorm Goldenen Frosch auf den Frieder stießen, einen dritten Urlauber aus ihrem Schuljahr …
Die Fama weiß zu berichten, dass die drei bei ihrer zweiten oder dritten Runde ein viertes Bier bestellten – klar, „nör a klännes“, nur ein kleines – und dass der Zweieinvierteljährige, ihr „Nachwuchsrekrut“, mit beiden Patschhänden zugriff und schluckte, schluckte „wie a Alter“.
Selber waren sie damals neunzehn, alle drei: Der Frieder, der Reinhard und der Gotthard, und keiner von ihnen sollte je die Zwanzig erleben. Der Krieg am Rand, fern bombardierter Städte, in relativer Geborgenheit. Doppelt – und mehr noch – geborgen, verglichen mit dem Ausgeliefertsein in einem der überfallenen, geknebelten Länder, den Weiten umkämpfter, getränkter, verbrannter Erde, den fluchtartig geräumten, später ausgefegten Ostgebieten. Kriegszeit in Thüringen, in Groß-Deutschlands grünlichem Herzstück, auserkoren zum Standort der Endsieg-Kommandozentrale Jonastal, einstweilen buchenwaldgekröntes Refugium und …
Geht nicht. Nicht in diesem Ton, nicht mit solcher Akzentuierung. (Noch beim 50. Buch und nach einem halben Jahrhundert Mühen und Übung hat der Schreiber, ein Hineingeborener, der im Mai ’45 knapp fünfeinhalb war, seine Not, die rechten – Pardon, die treffenden Worte zu setzen, ja, überhaupt: sich vorzuwagen auf dieses leidige, heikle, vielfach verminte Terrain.) Belassen wir’s also bei der Andeutung, wie wichtig auch die exakte – zudem korrekte – Einbindung wäre! Ohne zweiten Anlaufversuch der dritte Splitter, der im Gedächtnis steckt, länger – und damit älter – vielleicht als die anderen zwei: Besagter Bahnsteig – übrigens der einzige Perron der Station Neustadt-Gillersdorf, gelegen an der Strecke Ilmenau-Großbreitenbach. Hier am vermutlich mit Vorkriegsfarbe gestrichenen, dennoch rostfleckigen Geländer, das den gefegten Ein- und Aussteigpfad vom Gleisstück vor der gleichfalls gefegten Güterschuppenrampe trennt – hier liegt reglos ein großer schwarzer (in Wahrheit wohl eher staubig-schwarzgrauer) Mann – für das Bübchen, das bei diesem Anblick erstarrt, fortan (und bis zur Stunde) d’r groass schwarz Mou.
Wahrscheinlich erklärt die Mutter (oder der Opa Magnus oder der Alberticus, der sie mit dem Schimmel oder mit dem Braunen herkutschiert hat), der Schwarze da sei gar kein Mann, kein richtiger Mensch, nur ein Denkmal, das Standbild des Fürsten Karl Günther. Sagt das vielleicht zerstreut, die Stimme möglicherweise gedämpft; denn schließlich ist man hergekommen (höchstwahrscheinlich nicht kutschiert worden, sondern geritten auf Schusters Rappen, allenfalls das letzte Stück, den Rotkopf herab, auf dem mitgeführten Handwagen gerollt), um Gustel, den Eheliebsten und Papa, beziehungsweise Gotthard, den Sohn und Onkel, abzuholen, heim für ein paar Urlaubsstunden, und der Fürst dort, die Bronzefigur, bekannt von Schulausflügen zum Denkmal drüben auf dem Langen Berg – die liegt doch sicher da, um abtransportiert zu werden, abgeholt; da sieht man besser nicht so genau hin und senkt die Stimme.“
Und damit sind wir bei den Super-Sonder-Angebot zu 99 Cents für das E-Book, das von dem vorpommerschen Autor Harry Schmidt stammt und regulär 9,99 Euro kostet. (Das gedruckte Buch kostet übrigens 16,80 Euro.) Schmidt setzt sich in seinem Roman „Ein beschneites Feuerwerk. Sinnsuche und Liebesleben der Ulrike B. in zwei Systemen“, der in zwei Gesellschaftsordnungen spielt, mit dem Leben und den Ansprüchen einer alleinerziehenden, jungen Frau vor und nach der Wende in der DDR auseinander: Industriegestalterin Rike ist keine Außenseiterin und auch nicht privilegiert. Sie muss als allein erziehende Mutter Geld verdienen. Doch ihr Beruf wird nicht mehr benötigt. Und sie hat keine Schulter, um sich mal anzulehnen. Statt die neuen Freiheiten zu nutzen, arbeitet sie sich ab an deren Zwängen. Manchmal aber bricht sie aus. Da sprühen an ihrem Himmel die Funken. Eine tapfere, illusionslose Suche nach Sinnerfüllung im Leben, nach Schönheit und Glück. Eine Liebesgeschichte jenseits aller Klischees. Tiefen auslotend, sinnlich, pointiert. Wir treffen Rike in ihrem Auto, wo wir schon einiges über sie erfahren:
„Teil I: Rike und Robert
1
Alles geht jetzt so schnell. Rike muss schon blinken, muss schon einbiegen in die Pappelallee. Die Straße dreht sich. Schwenkt für einen Wimpernschlag weiter, als gerate sie ins Trudeln. Stoppt dann aber. Die kahlen Bäume – eben noch eine Wand aus überhohen Palisaden – lösen sich von einander, formieren sich zu Fluchten. Und gleiten stumm vorbei. Wie Schattenbilder, regengrau, verwaschen, gleichgültig. Rike entspannt sich, lächelt: Das da draußen hat etwas Unwirkliches, wenn man im Auto sitzt. Eine der vielen gefährlichen Illusionen! Sie wusste es schon früher; so was merkt man auch als Beifahrerin. Und zieht seine Schlussfolgerungen. Trotzdem, manches war einfacher, als sie noch mit dem Rad fuhr. Und umständlicher.
Der Nieselregen legt sich immer wieder als Schleier auf die Frontscheibe. Wird immer wieder verlässlich weggewischt. Rike genießt das schon. Sie hat sich längst gewöhnt an ihren kleinen, wendigen Eins–Einser. Auto fahren macht ihr inzwischen sogar Spaß. Sie versucht allerdings, möglichst wenig zu schalten. Ihr Bein mag es nicht, wenn sie die Kupplung tritt. Schmerzt heftiger als beim kontinuierlichen Strampeln auf dem Fahrrad.
Am Glaskasten des verwaisten Pförtnerhauses bremst sie vorsichtig, blinkt wieder. Der Schlagbaum steht jetzt immer offen, wurde in der Senkrechten arretiert. Rike findet es nach wie vor seltsam, ja ein wenig vermessen, einfach mit dem privaten Pkw auf das Gelände des ehemaligen Kombinates zu rollen.
Dann wird es kompliziert. Überall neue hohe Metallzäune. Neue Firmenschilder. Die Straßenführung gleicht einem Irrgarten. Dort wo früher der Flachbau mit der EDV-Technik stand, erhebt sich – fast schon fertiggestellt – ein dreigeschossiges Verwaltungsgebäude. Die Front aus Glas und Aluminium, im Mittelteil geradezu sakral aufsteigend. Dahinter das durchsichtige Treppenhaus, hell erleuchtet. Die Flügel zu beiden Seiten enden in Türmen. Gekrönt von kupfernen Kuppeln. Rike verzieht jeden Morgen den Mund, spöttisch und angerührt zugleich: SEINE RESIDENZ!
Am Firmenlogo wird noch geschraubt. Der neue Parkplatz aus rötlichen, ineinander verschränkten Pflastersteinen, matt glänzend im Nieselregen und vollgestellt mit Autos. Fast nur noch Marken aus dem Westen! Da fällt sie mit ihrem kleinen Eins-Einser schon wieder aus dem Rahmen. Zusätzlich stehen noch viele Transporter von Handwerkerfirmen hier. Dazwischen Fliesen, Kabelrollen, Sanitärzubehör, ein Abfallcontainer, transportable Toilettenhäuser. Rike wird sich hüten, dazwischen zu parken. Sie wendet. Weiter vorne vor einer der neuen Firmen ist Platz. Da steht nicht ein Auto, ganz als habe man die Geschäftstätigkeit bereits wieder aufgegeben. Das Tor ist mit Panzerschlössern versperrt. Rike überzeugt sich, dass sie ihre Handbremse angezogen hat. Sie öffnet die Tür. Und lässt sie wieder zufallen. Der Unternehmer da vorne hat es versucht und ist gescheitert. Na und! Sie hat es auch versucht. Aber sie kann das nicht mit ihrem Bein. Sie ist für die Marktwirtschaft nicht geschaffen!
Ein Blick zum Innenspiegel: Der kahle Hals, schutzlos, ein dünner, weißer Stängel. Die Haare weg. Ihr schönes, dunkles Fließen bis hinab zum Gürtel ratzfatz beendet. Mit der Küchenschere und mit Annes Hilfe. Unumkehrbar, ohne RETURNTaste. Rike starrt sich böse an. Reine Bilderstürmerei! Wie bescheuert war sie eigentlich! Und ist doch immer so stolz darauf, dass sie ihre Gedanken bis zu Ende denkt. Gerade mit so einem Bein!
Sie schiebt den Zündschlüssel ins Schloss. Startet den Motor. Legt den Gang ein. Zögert, den Fuß auf der Kupplung, die struppigen Brauen zusammengezogen. Wohin denn? Anne wird sie verwundert angucken unter ihren Schlupflidern. Die Mutter wird sich vortasten, als bewege sie sich auf vermintem Gebiet, um schließlich doch das Tabuthema Operation anzusprechen.
Rike schaltet die Zündung wieder aus. Stößt die Tür auf. Und rutscht vorsichtig nach draußen. Die Regenluft, ein prickelndes, herrlich kaltes Tuch. Wenn nur das Knie nicht wäre! Dort beißt und brennt es jetzt schon. Als hätte Rike bereits den halben Tag am Reißbrett gestanden. Sie wird Mühe haben, die Treppe hochzukommen, obwohl die doch breit und bequem ist. Projektiert nach den neuen Vorschriften. Sie zwingt sich, langsam zu gehen. Auf die paar Minuten kommt es auch nicht mehr an! Und dann sieht sie sich nach oben schweben. Sieht sich gehalten, getragen von Männerarmen, die teuer nach Tabak duften. Sieht blütenweiße Manschetten, den breiten Ehering. Sie schüttelt ärgerlich den Kopf: Pubertäre Anwandlungen, späte Teenager-Fantasien. Sie will das nicht! Sie ist mehr denn je ein Krüppel. Das hat das neue alte System noch deutlicher gemacht.
Alleinerziehend, mit einer Tochter, die bereits zur Schule geht. Und überhaupt hat der Chef anderes zu tun, als sich um seine hinkende Mitarbeiterin zu kümmern. Der hat nächste Woche seinen großen Tag. Den Tag, auf den er – wie er sagte – seit der Wende mit aller Kraft hinarbeitet.“
Und wie geht es mit Rike weiter? Wie wird es ihr in der neuen Zeit ergehen? Haben ihre Hoffnungen und Träume eine Chance? Wenn Sie das erfahren wollen, dann sollten Sie das spannende Buch von Harry Schmidt nicht verpassen. Es bietet einen wunderbaren Blick zurück in eine aufregende Zeit und zugleich Anlass zu Gedankenexperimenten derart, was denn heute aus Rike und ihren Weggefährten der damaligen Wendezeit geworden sein könnte. Wie ginge es Rike heute? Haben sich ihre Hoffnungen und Träume erfüllt?
Aber auch die anderen Angebote dieses Newsletters lohnen sich. Viel Spaß beim Lesen und Erkunden und falls der Jahrhundertsommer nun doch schon zu Ende sein sollte, dann eben so langsam einen schönen Herbst und bis demnächst.
EDITION digital wurde 1994 gegründet und gibt neben E-Books (vorwiegend von ehemaligen DDR-Autoren) Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, derzeit mehr als 900 Titel (Stand August 2018).
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